Vier Hände für ein Sacre

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Im frühen 19. Jahrhundert waren Sinfoniekonzerte kostspielige Veranstaltungen, die sich nur wohlhabende Familien leisten konnten, soweit sie überhaupt in öffentlichen Räumen und nicht nur in Adelshäusern stattfanden. Außerdem waren solche Aufführungen meist auf größere Städte beschränkt. Mangels technischer Aufzeichnungen – Radio und Grammophon kamen erste gegen Ende des 19. Jahrhunderts – waren sinfonische Werke im privaten Umfeld unbekannt. Daher verfassten viele Komponisten Klavierversionen bekannter sinfonischer Werke, und um einen orchestralen Eindruck zu erzielen, schrieb man solche Werke für vierhändiges Klavier. Der Erfolg dieser Musikstücke führte dazu, dass die Komponisten auch Werke direkt für das vierhändige Spiel komponierten, die dann im Rahmen privater Hausmusik gespielt wurden.

Die niederländischen Brüder Arthur (23) und Lucas (25) Jussen haben sich auf das vierhändige Klavierspiel spezialisiert und sind in kürzester Zeit zu einem der renommiertesten Duos auf diesem Gebiet avanciert. Beim 4. Kammerkonzert des Staatstheaters Darmstadt präsentierten sie ein weit gefächertes Programm von Beethoven über Schubert und Ravel bis hin zu Strawinsky. In allen Fällen handelt es sich um vierhändige Klavierwerke, bei Strawinskys „Sacre du Printemps“  jedoch um eine von diesem selbst verfasste Version für zwei Klavieren.

Beethovens „Acht Variationen für zwei Klavier über ein Thema des Grafen von Waldstein“ dienten sozusagen dem „Warmspielen“, obwohl  Beethovens Werke – von „Elise“ abgesehen – nie etwas Beiläufiges an sich haben. So sind auch diese Variationen akzentuiert und durchlaufen die unterschiedlichsten rhythmischen und melodischen Abwandlungen des vorgegebenen Themas. Die beiden Brüder nahmen denn auch diese Komposition vom ersten Augenblick an ernst und spielten sie mit sichtbarem Körperausdruck, vor allem Arthur kehrte seine musikalischen Empfindungen während des Spiels von Beginn an nach außen, ohne deswegen jedoch aufgesetzt zu wirken. Auffallend auch hier schon die körperliche Nähe der beiden beim Spiel, die geradezu den Eindruck einer perfekten Symbiose vermittelt. Bei besonders intensiven musikalischen Momenten scheinen sie zu einem Spieler zu verschmelzen, um sich dann, bei forscherer Gangart, jedoch wieder zu trennen.

Das kam natürlich vor allem bei Franz Schuberts Fantasie in f-Moll, D 940, zum Ausdruck, denn dieses Stück verströmt buchstäblich die „heitere Schwermut“ der letzten Werke Schuberts. Es mutete erstaunlich und ergreifend an, wie diese beiden jungen Männer sich in diese Fantasie förmlich hineinlebten und Schuberts sehnsüchtige, Abschied nehmende Wehmut nachempfanden. Wenn junge Menschen späten Schubert spielen, kann das leicht sentimental klingen, da sie meist nicht über die Lebenserfahrungen verfügen, um diese Musik glaubwürdig und authentisch zu interpretieren. Diesen beiden Brüdern gelang das Kunststück jedoch auf beeindruckende Weise. Mit ihrem feinfühlig verzögertem Anschlag und den wohl gestalteten Längen verliehen sie diesem Werk genau den musikalischen Ausdruck, der den späten Schubert kennzeichnet: ein Schweben zwischen Wehmut und Entsagung, aber ohne gefühliges Selbstmitleid.

Maurice Ravels´“Ma mère l´Oye“, eine Folge von fünf Kinderstücken, vermittelt dagegen einen ganz anderen Eindruck. Mit nur vordergründiger Schlichtheit, jedoch der abgründigen Tonalität des frühen 20. Jahrhunderts blättert Ravel in diesen Stücken einen völlig neuen Band musikalischer Stimmungen auf. Die gefühlsgeladene Sehnsucht der Romantik ist einem intellektuellen Zweifel an der Welt gewichen, der sich in distanzierten Motiven und kühlen bis kühnen Harmonien niederschlägt. Den Brüdern Jussen gelang dieser Sprung von neunzig Jahren in der Musikgeschichte ohne den Hauch einer Unsicherheit. Mit Bedacht und Spürsinn für den je eigenen Charakter eines Motivs oder gar einzelner Töne zelebrierten sie diese kurzen musikalischen Märchen von der „Schönen im schlafenden Wald“, dem „Däumling“ oder der „Schönen und dem Biest“.

Der Höhepunkt des Abends kam dann nach der Pause: Igor Strawinskys „Sacre du Printemps“, gesetzt vom Komponisten für zwei Klaviere. Die Premiere des Balletts hatte im Jahr 1913 in Paris einen Skandal mit ausgewachsener Schlägerei im Zuschauersaal verursacht, und daran war maßgeblich Strawinsky Musik „schuld“. Er stellte in dieser Ballettmusik nicht nur die Rhythmik eindeutig über Melodik und Harmonik, sondern mischte bei letzterer auch noch verschiedene Tonalitäten und Tonarten, so dass ein extrem dissonanter Klang entstand, der mit einem urwüchsigen Rhythmus unterlegt war. Diese auch heute noch fremdartig anmutende Musik interpretierten die beiden Brüder auf zwei Flügeln, dabei miteinander Augenkontakt haltend, soweit es das komplexe Spiel zuließ. Gehämmerte Akkordketten wechseln sich mit schlichten Motiven einfacher Tonalität ab, wobei wechselnde und dabei überlappende Tonarten einen ganz eigenartigen, archaischen Eindruck vermitteln. Dabei spielen die beiden Solisten nicht in der typischen Art vierhändiger Klaviermusik, das heißt: in enger melodischer und harmonischer Verbindung, sondern wechseln sich mit schnellen melodischen oder rhythmischen Folgen ab, um dann wieder ein Stück gemeinsam zu musizieren oder den jeweils anderen zu begleiten. Das Ziel dieser Musik ist offensichtlich, jegliche konventionelle Erwartungshaltung an sinfonische Musik zu unterlaufen und zu den musikalischen Anfängen der Menschheit zurückzugehen, als Trommeln und einfache Motive die Naturgötter beschwören und beschwichtigen sollten.

Den Brüdern Jussen meisterten diese Parforce-Tour durch Strawinskys Partitur mit Bravour und vermittelten dem Publikum eine ganz andere klangliche Erfahrung dieses wohl berühmtesten Stückes des 20. Jahrhunderts. Sie spielten meisterlich die Geschichte von den „Vier Händen für ein Sacre“ und ernteten dafür begeisterten Beifall des Publikums. Dieser Beifall war dann auch noch zwei virtuose Zugaben wert.

Frank Raudszus

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