Paul Collier: „Sozialer Kapitalismus“

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Paul Collier ist Professor der Ökonomie in Oxford und hat eine ähnliche Stellen an anderen renommierten Universitäten, u.a. auch in Harvard, bekleidet. Er gehört also zu den Erfolgreichen, Arrivierten, sprich: der Elite. Er weiß das und reflektiert diese Tatsache auch, indem er sich mit seiner gleichaltrigen Cousine vergleicht. Beide entstammen kleinen, eher ärmlichen Verhältnissen, und während ihm der Aufstieg gelang, ging seine Cousine den schweren Weg einer frühen Schwangerschaft und des Verharrens in prekären Verhältnissen. Diese „Spaltung“ im engsten Familienkreis schwebt wie ein „Memento“ über dem ganzen Buch, weiß der Autor doch, dass sie geradezu paradigmatisch für die von ihm beschworenen Fehlentwicklungen in den westlichen Gesellschaften sind.

In einer ausgedehnten Einleitung, „Krise“ übertitelt, beschreibt Collier nicht nur den gegenwärtigen Ist-Zustand westlicher Gesellschaften, der durch eine zunehmende Spaltung auf verschiedenen Ebenen gekennzeichnet ist, sondern er fasst dabei in gewissem Sinn auch schon seine in den folgenden Kapiteln detailliert ausgeführten Erkenntnisse qualitativ zusammen. Damit folgt er einem allgemeinen Trend in der wissenschaftlichen Literatur, die wesentlichen Aussagen in einer Art Zusammenfassung für den unter Zeitdruck stehenden Leser zu verdichten. Für Leser des gesamten Buches führt das zwar zu gewissen Redundanzen, die jedoch angesichts der Komplexität der Materie und der Detailtiefe dieses Buches dem Verständnis eher förderlich sind.

Bei seinen Ausführungen in dem Kapitel „Die Grundlagen der Moral“ geht Collier weit zurück bis zu Adam Smith, David Hume und dem „homo oeconomicus“. Dabei zitiert er Humes pessimistischen Satz „Die Vernunft ist die Sklavin der Leidenschaften“ und verwandelt ihn in die eher nüchterne Feststellung, Gründe seien in Werten und nicht Werte in Gründen verankert. Will sagen: man sucht sich die (Vernunft-)Gründe nach den eigenen Wertvorstellungen und nicht umgekehrt. Daraus entwickelt er den griffigen Satz „Der Populismus bietet das kopflose Herz, die Ideologie den herzlosen Kopf“.

Die Reziprozität der wechselseitigen gesellschaftlichen Beziehungen ist ein zentraler Punkt in Colliers Ausführungen. Ausgehend von vorliegenden Gemeinsamkeiten – Territorium, Sprache, Religion – entwickelten Menschengruppen soziale Beziehungen mit reziproken Verpflichtungen. Ohne dieses wäre ein soziales Zusammenleben in frühen Entwicklungsstufen der Gesellschaft(en) unmöglich gewesen. Dabei spielen Narrative wie historische Legenden oder charismatische Führer eine wesentliche Rolle als gemeinsames Leitbild. Aus diesen (moralischen) Narrativen werden kausale Zusammenhänge, d.h. die Narrative dienen der Welterklärung und gewinnen schließlich den Charakter von Fakten.

Diese reziproken Verpflichtungen sind im Laufe der letzten Jahrzehnte laut Collier anderen gesellschaftlichen Konstrukten gewichen. Der Staat hat weitgehend die soziale Absicherung übernommen, wobei er durch diese vordergründig fürsorgliche Maßnahme den verpflichtenden Zusammenhalt der Bürger ausgedünnt hat. Gegenseitige persönliche Verpflichtungen mutieren zu einklagbaren Rechten gegenüber dem anonymen Staat und verlieren damit ihre Bindekraft. Dieser „Paternalismus“ des Staates gibt dem um Wählerstimmen kämpfenden Politiker ein starkes Instrument an die Hand, degradiert den Bürger jedoch letztlich zum unmündigen Almosenempfänger.

Die ursprünglichen Verpflichtungen vorkapitalistischer Gesellschaften sind für Collier maßgeblich für deren Zusammenhalt und setzen sich aus sechs Begriffen zusammen: Fürsorge und Freiheit, Loyalität und Reinheit, Fairness und Hierarchie. Die Auswüchse des globalen Kapitalismus haben laut Collier vor allem die Fürsorge, die Loyalität und die Fairness in Misskredit gebracht.

In weiteren Kapiteln untersucht Collier die einzelnen Träger gesellschaftlicher Beziehungen: den ethischen Staat, das ethische Unternehmen und die ethische Familie. Die „ethische Welt“ ist zwar der logische Schlusspunkt, doch fällt dieses Kapitel wegen der begrenzten Einflussmöglichkeit auf globaler Ebene eher vage aus. Für die anderen drei „ethischen“ Beziehungsträger entwirft Collier im Anschluss konkrete und pragmatische Lösungsvorschläge zur Aufhebung oder zumindest Reduzierung der zunehmende gesellschaftlichen Spaltung.

Beim Staat sieht er die Spaltung zwischen Metropolen und Provinz. Der rasante technologische Fortschritt habe alle wichtigen Institutionen in den Metropolen versammelt, während die Provinz veröde und verarme. Waren früher Stahlerzeugung und -weiterverarbeitung in der Nähe von Kohlegruben angesiedelt – Collier erwähnt explizit seine heruntergekommene Heimatstadt Sheffield -, so spiele dieser Standortvorteil im Zeitalter der Hochtechnologie keine so große Rolle mehr. Heute seien die Nähe zur Regierung, zu anderen Technologieführern und zu günstigen Kommunikations- und Transportmittel wichtiger. Erfolgreiche Firmen ziehen andere an, während Zulieferer sich von notleidenden Firmen absetzen. Dieser Prozess werde noch dadurch verstärkt, dass höhere Steuereinnahmen in Metropolen wiederum diesen zugute kämen, um die akuten Probleme zu lindern. Dadurch vergrößere sich der Abstand zur verödenden Provinz.

Collier veranschaulicht diesen Prozess an einem einfachen Modell, das von der Annahme ausgeht, der Mensch beziehe sein Selbstwertgefühl aus genau zwei Identitäten: der Nation und dem Beruf. Mit dem rasant wachsenden Bedarf nach Hochqualifizierten und deren internationaler Ausrichtung verstärkt sich die berufliche Komponente bei gleichzeitiger Verminderung der nationalen bis zu dem Punkt, an dem die Hochqualifizierten sich als eigene, elitäre Kaste fühlen und für die (engstirnigen) Nationalisten nur noch Spott übrig haben. Die Nieder- oder gar Unqualifizierten hängen dagegen mangels beruflicher Alternative an der nationalen Identität und betonen diese in ihrer Not bis hin zu Fremdenfeindlichkeit und Globalisierungshass.

Zur Lösung dieses Problems schlägt er eine Steuer für alle Metropolen-„Gewinner“ vor, als da sind: Immobilienfirmen und -vermieter, Hightech-Firmen, aber auch Spitzenverdiener ohne familiären Anhang. Diese Steuer solle jedoch den Provinzstädten und dem flachen Land zugute kommen, allerdings nicht als Geldstrom, der nur in den sozialen Konsum fließen würde, sondern als Ansiedlungsanreiz für gezielt ausgesuchte Branchen.

Bei den „ethischen“ Unternehmen nennt Collier einige alteingesessene englische Firmen, die dank ihres ethischen Bewusstseins und ihrer hohen Reputation auch schwere Zeiten überlebt hätten. Denen stellt er den modernen Firmentyp entgegen, der Friedmanns Dogma des „shareholder value“ verinnerlicht habe und nur den kurzfristigen Gewinn anstrebe. Oftmals verfolgten diese Firmen Geschäftsmodelle, die zwar hohen Unternehmensgewinn, aber keinerlei gesellschaftlichen Nutzen versprächen. Beispiele sind die Investmentbanken, hier vor allem der Hochfrequenzhandel, und Anwaltskanzleien, die in großem Maßstab im Abmahnungsgeschäft tätig seien, meist ohne konkret Geschädigten. Vormals genossenschaftlich geführte Firmen mit solidem Geschäft und hervorragendem Ruf durften in England unter Thatcher und Co. in AGs umgewandelt werden, was den momentanen „Genossen“ viel Geld einbrachte, jedoch die Zukunft der Firmen verspielte.

Hier verlangt Collier entsprechende Gesetze, die hohe Gewinne offensichtlich nicht gemeinnütziger Unternehmen abschöpften und sie gemeinnützigen Unternehmen in geeigneter Form zur Verfügung stellten.

Man sollte Collier deshalb jedoch nicht für einen verkappten Sozialisten halten. Er steht eindeutig für eine freie Marktwirtschaft, die jedoch den verdienten Beinamen „sozial“ tragen sollte. In diesem Zusammenhang erwähnt er auch mehrere Male lobend Deutschland, zum Beispiel das duale Bildungssystem. In den angelsächsischen Ländern sei der akademische Abschluss deutlich überbewertet, was dazu führe, dass viele mittelmäßige Absolventen als schlecht bezahlte Sachbearbeiter endeten, während sie als Handwerker vielleicht ein wesentlich besseres Auskommen hätten.

Auch bei der Familie sieht er starken Änderungsbedarf der Politik. Der soziale Paternalismus arbeite mit finanziellen Hilfen, die wiederum an Auflagen gebunden seien. Dadurch würden die Unterstützungsempfänger in würdeloser Abhängigkeit gehalten. Man solle das Geld dafür besser in konkrete Projekte investieren, bei denen die „Kunden“ der Sozialbehörden wieder in eine menschenwürdige berufliche Umgebung integriert würden. Auch hier gibt er konkrete Beispiele hoffnungsvoller Ansätze und deprimierender behördlicher Reaktionen.

Die latente Erosion der Familie besonders im Gesellschaftsbild der Linken greift Collier besonders an. Die Familie sieht er weiterhin als Kern aller gesellschaftlichen Systeme und Verhältnisse. Dabei verdeutlicht er den Einfluss schlechter familiärer Verhältnisse auf die Entwicklung bereits der ungeborenen Kinder an entsprechenden Studien und erteilt der „Euphorie“ über allein erziehende Mütter eine klare Absage.

Der Entwurf einer „ethischen Welt“ ist für Collier zwar Herzenssache, aber er sieht auch die Schwierigkeiten. Die gegenseitige Verpflichtung und Unterstützung zwischen den Ländern sei seit dem Zweiten Weltkrieg deutlich zurückgegangen, und selbst innerhalb von Bündnissen wie der NATO weichten die gegenseitigen Verpflichtungen immer mehr auf, wie die ganz aktuellen Entwicklungen zeigten. Dass sich ein Land wie England mit dem BREXIT den europäischen Verpflichtungen entzieht, ist dabei das „i-Tüpfelchen“ der Entwicklung. Wie dies zu ändern sei, kann Collier auch nur andeuten, denn wer könnte das außer den Regierungen der beteiligten Länder? Und wenn diese sich schon aus solchen Verpflichtungen lösen, ist keine weitere Instanz vorhanden. Ein Universitätsprofessor gerät da an seine Grenzen.

Paul Collier hat mit diesem Buch eine umfassende und schonungslose Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation in der westlichen Welt vorgelegt. Dessen ganz besonderen Stärken liegen einerseits in der historischen Aufarbeitung der ethischen Maßstäbe und Entwicklungen, andererseits in den konkreten und durchaus praktikablen Vorschlägen für eine Verbesserung der kritischen Situation. Man kann nur hoffen, dass die einschlägigen Politiker dieses Buch lesen und sich die Ausführungen zu Herzen nehmen.

Das Buch ist im Siedler-Verlag erschienen, umfasst einschließlich Anmerkungen und Register 317 Seiten und kostet 20 Euro.

Frank Raudszus

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