Julian Barnes: „Die einzige Geschichte“

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In dem Roman „Die einzige Geschichte“ von Julian Barnes steht wie in früheren Romanen das Thema Erinnerung hinter der Erzählung: Erinnerung als psychischer Prozess, dem wir nicht trauen können. Erinnerung verändert, verklärt, verdrängt Erlebnisse. Je älter wir werden, desto stärker verdichten sich Erinnerungen, je nach dem, welche Bedeutung und welche Auswirkungen die jeweiligen Ereignisse im Leben gehabt haben. Auf diesen Prozess weist schon Julian Barnes‘ Titelgestaltung hin. Da ist der Titel zunächst in Drucktype geschrieben, dann durchgestrichen und derselbe Titel in Handschrift darüber gelegt. Das verweist auf die Unsicherheit des Sich-Erinnernden hinsichtlich seines Lebensmaterials: War es wirklich so? Oder war es doch anders? Wie würden andere die Geschichte sehen?

Der alternde Paul erinnert sich an die große Liebesgeschichte seines Lebens und erzählt uns, wie ihm im Rückblick die Phasen dieser Liebe erscheinen.

Als 19-Jähriger verliebt er sich in die 48-jährige Susan Macleod. Sie ist verheiratet mit Gordon und hat zwei Töchter, die ungefähr in seinem Alter sind.

Die zunächst unwahrscheinlich klingende Geschichte, der niemand eine Zukunft zutraut, wird für Paul zu seiner „einzigen Geschichte“. Jeder habe seine „einzige Liebesgeschichte“ räsoniert der alternde Paul, bei ihm ist es eben diese, die sein ganzes weiteres Leben prägen wird.

Dabei fängt alles ganz harmlos an. Als Paul in den Semesterferien im „Hotel Mama“ abhängt, drängen ihn die Eltern, in den Tennisclub der Kleinstadt einzutreten. Sie hoffen, dass er sich unter die jungen Leute mischen wird und dort auch ein passendes Mädchen zwecks späterer Heirat treffen wird.

Aber dieser Plan geht nicht auf. Er wird stattdessen der Mixed-Partner der solide spielenden Susan. Durch mehr oder weniger erfolgreiche Mätzchen am Netz versucht er ihr zu imponieren, zunächst nur als Tennisspieler. Er wird ihr jugendlicher Begleiter, der sie auch gerne chauffiert. So bleibt zunächst allen, auch ihrer und seiner Familie, verborgen, dass aus der Tennispartnerschaft längst eine Liebesbeziehung geworden ist.

Paul nistet sich mehr und mehr in den Haushalt der Macleods ein, übernachtet dort, sitzt wie selbstverständlich in der Bibliothek des Hausherrn, bringt Freunde mit. Der Hausherr betrachtet das lange als eine Marotte seiner Frau, was ihm ziemlich egal ist, da die ehelichen Beziehungen offenbar auf ein Minimum reduziert sind. Das hört Paul jedoch nur aus dem Mund von Susan. Wie es tatsächlich in der Ehe aussieht, bleibt offen.

Susans Töchter sind dem Eindringling gegenüber von Anfang an feindselig eingestellt. Als Gordon, der für Golf, Kreuzworträtsel und seinen Whisky lebt, dämmert, dass da mehr ist, ist es schon zu spät. Hilflose nächtliche Attacken in betrunkenem Zustand führen zu keiner Lösung. Der Leser fragt sich, warum Gordon diesen dreisten jungen Mann nicht einfach aus dem Haus wirft. Aber dazu fehlt ihm offenbar die psychische Kraft, er kann nur um sich schlagen. So richtet er einmal seine Frau so zu, dass sie im Unterkiefer mehrere Zähne verliert.

Der alternde Paul ist erstaunt, mit welcher Nonchalance der junge Paul das Recht auf Susan für sich in Anspruch nimmt. Dahinter steht sein Liebescredo, das die Liebe absolut setzt und die Anforderungen der Realität für unwichtig erklärt; Bedeutung hat für ihn nur die Intensität der Zweisamkeit. Aus dem Rückblich erkennt Paul, wie er Susan idealisiert hat. Sie, die keine Bildung und – außer dem Tennis – offenbar keine Interessen hat, ist für ihn eine lebenskluge Frau, deren Wissen auf ihrer Lebenserfahrung beruht, während er seine Kenntnisse aus seiner formalen Bildung gewonnen hat. Aus seiner Sicht ist sie ihm jedoch überlegen. Dass sie eigentlich nur in Sprachschablonen und Allgemeinplätzen spricht, merkt er als junger Mann nicht.

Als die Realität sich deutlich in dem Rauswurf der beiden aus dem Tennisclub bemerkbar macht, haben Paul und Susan für die Spießigkeit der Kleinstadtwelt in den 60er Jahren nur Spott. Sie brauchen den Tennisclub nicht.

Schließlich schaffen sie sogar den Absprung aus dieser Welt, Susan verlässt ihre Familie, Paul bricht mit den Eltern, und sie ziehen nach London. Paul beendet sein Studium, um dann Geld für den gemeinsamen Lebensunterhalt zu verdienen. Dass Susan in dieser neuen Welt keine Perspektiven und keine Aufgabe hat, außer den Haushalt zu führen, dass auch seine Freunde inzwischen von dieser Beziehung irritiert sind, insbesondere die jungen Frauen, und sich nach und nach zurückziehen, bemerkt er nicht. So muss ihn erst sein Freund Eric, der als Mieter in ihrem Haus wohnt, darauf aufmerksam machen, dass Susan trinkt. Das ist der Beginn ihrer selbstzerstörerischen Entwicklung, die auch Pauls Liebe zerstören wird.

Auch im Rückblick hat er kein schlechtes Gewissen, dass er Susan schließlich, um sich selbst zu schützen, als seelisches und körperliches Wrack an ihre Tochter Martha „zurückgibt“. Ein letzter Besuch bei ihr kurz vor ihrem Tod macht ihm klar, dass alle Gefühle für sie erstorben sind.

Für sein eigenes Leben ist die Beziehung zu Susan prägend: Nie wieder bindet er sich fest an eine Partnerin. Beruflich ist er zwar erfolgreich, bleibt aber unter seinen Fähigkeiten. Er ist unstet, kommt in der ganzen Welt herum, bis er sich als Vertreter einer Käsefirma auf einem Markt in London wiederfindet. Diese bodenständige Arbeit scheint ihm zum ersten Mal innere Ruhe zu geben.

Julian Barnes erzählt diese „einzige Geschichte“ in Erinnerungsschüben, die nicht der Chronologie der Ereignisse folgen, sondern dem Pauls Grübeln über sein eigenes Leben entspringen. Dabei räsoniert er über die Liebe an sich, über die Unterschiedlichkeit von Mann und Frau in Liebesdingen, über das Alter und – immer wieder – über die Fragwürdigkeit der Erinnerung.

Die erzählenden Passagen sind eindringlich, oft auch humorvoll, zeigen die Kraft und Unbekümmertheit der Jugend im Gegensatz zum erinnernden Alter und lassen die Leser ganz in die Welt von Paul und Susan eintauchen. Allerdings bleibt die Figur Susans dabei eher blass. Da wir sie nur aus seiner Erinnerung kennen, wissen wir nicht, was sie an Paul bindet und was sie von dem Leben mit ihm erwartet. Oder ob sie sich darüber gar keine Gedanken macht und nur weg will. Unklar bleibt auch, was sie zu den gelegentlichen Besuchen in dem Haus ihrer Familie treibt.

Sehr viel mehr Profil hat ihre Freundin Joan, die nach einer gescheiterten Beziehung konsequent alleine lebt, ihren einsamen Alltag aber auch gerne mit Alkohol aufhellt. Sie verfolgt die Beziehung zwischen Paul und Susan aus der Ferne, ist Pauls Beraterin in schwierigen Situationen, mahnt seine Verantwortlichkeit für Susan an. Sie hält die Entscheidung, alles zu verlassen, für sehr mutig. Sieht sie das Desaster voraus?

Die reflektierenden Passagen haben oft etwas altväterlich Räsonierendes, bieten den Lesern Interpretationen der Ereignisse an, die diese vielleicht lieber selbst angestellt hätten. Andererseits bleibt ihnen nun die Aufgabe der Interpretation dieser Interpretationen wie auch der von Paul verkündeten Lebensweisheiten, die bisweilen belehrend wirken. Aber vielleicht ist das Julian Barnes‘ Trick, um mit seinen Lesern in einen Dialog einzutreten. Gerade die Älteren unter seinen Lesern werden sich inspiriert fühlen, über ihre eigene „einzige Geschichte“ nachzudenken und ihre eigenen Lebensweisheiten an denen Pauls, bzw. Julian Barnes‘, zu messen.

Alles in allem ein lesenswertes und nachdenkliches Buch.

Das Buch ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen, hat 304 Seiten und kostet 22 Euro.

Elke Trost

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