Friedemann Karig: „Dschungel“

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Dieser Hörbuch-Roman vermittelt anfangs den Eindruck eines spannenden Jugendbuches für Halbwüchsige. Er beginnt mit einem Kinnhaken unter Grundschülern in einer fiktiven deutschen Stadt der Gegenwart und endet mit einem ernsthaften und entscheidenden Gespräch zwischen eben diesen beiden Kontrahenten Jahre später im kambodschanischen Dschungel.

Der Ich-Erzähler, offensichtlich aus gutem, behüteten Elternhaus – das spielt im Verlauf der Geschichte keine Rolle -, beneidet seinen Freund und Schulkameraden Felix, der alles zu haben scheint, was ihm fehlt: Kontaktfreudigkeit, Mut, keinen (falschen) Respekt vor Autoritäten und eine gute Portion Verrücktheit und Abenteuerlust. Zusammen durchleben sie die gesamte Schulzeit, erste Mädchengeschichten – immer mit Felix als Anführer – und Reisen an exotische Orte. An einem dieser Orte, hoch auf den Klippen über der See, fordert Felix seinen Freund halb im Scherz, halb im Ernst auf, ihn herunterzustürzen, damit er das Gefühl der vollständigen Freiheit wenigstens einmal genießen könne. Dieser Augenblick wird den Erzähler sein ganzes Leben bis zum Schluss verfolgen.

Der Roman ist in einer Rückblendentechnik verfasst. In der Erzählzeit ist Felix verschwunden. Er hatte sich allein auf eine Weltreise begeben und sich plötzlich auch auf dringende Anrufe nicht mehr gemeldet. Der Ich-Erzähler, dessen Namen man erst sehr spät beiläufig erfährt, lebt mit einer jungen Frau zusammen und betrachtet das „Verschwinden“ seines Freundes als typische Begleiterscheinung eines jungen Weltreisenden, der seine Familie über all die aufregenden Erlebnisse für eine Weile vergessen hat. Doch Felix´ Mutter bittet ihn inständig, sich auf die Suche nach ihrem Sohn zu machen, und er fügt sich – wie er es immer gegenüber Felix getan hat.

Während dieser Diskussionen blendet der Autor immer wieder in die Kindheit und damit in die Entwicklung der Freundschaft zwischen den beiden jungen Männern zurück und entwirft dabei ein Bild der Sozialisation der beiden. .Felix´Vater ist ein erfolgreicher, aber egomaner Anwalt, der die beiden Jungen stets in einem Halbwüchsigen-Jargon anspricht und das „cool“ findet. Die Mutter wird eher als fürsorglich und erzieherisch konsequent geschildert, spielt jedoch in den vielen Rückblenden in die Kinderzeit eine weniger wichtige Rolle. Irgendwann spielt Felix mit den Pillen seines Vaters und vertauscht einige gegen ordinäre Lutschtabletten. Als der Vater wenig später nach einem schweren Autounfall zum Pflegefall wird, stellt sich für Felix die Schuldfrage.

Der Erzähler bricht also auf nach Kambodscha und folgt den Spuren seines Freundes, die dieser in zwar karger, aber doch noch identifizierbarer Form hinterlassen hat. Aus der anfangs eher der Mutter seines Freundes zuliebe und ein wenig unwillig unternommenen Reise wird eine besessene Suche, bei der sich der Erzähler trotz vieler Rückschläge ein Aufgeben nicht erlauben zu können glaubt, weil er es für einen Verrat an seinem Freund halten würde. Je länger und absurder die Suche sich gestaltet, desto mehr spürt er, dass Felix irgendein Problem hatte, das er nicht hatte teilen können und das ihn zu dieser „Flucht in die Fremde“ getrieben hat.

Der Autor nutzt die Beschreibung der einschlägigen Stationen eines „Aussteigers“ zu satirischer Kritik an Tourismus – Chillen an einsamen schönen Stränden, die bald danach weder einsam noch schön mehr sind – und Aussteigertum – Apathie statt Neugier, Drogen statt Welterfahrung – , verliert darüber aber nie den roten Faden.

Am Ende, als der Erzähler schließlich Felix´Spur tief im kambodschanischen Dschungel entdeckt hat, bricht er sogar mit seiner aus Deutschland intensiv und emotional-ernsthaft Kontakt haltenden Freundin, weil ihm die Entschlüsselung der Motive seines Freundes wichtiger ist als seine eigene Bindungen und Erfahrungen. Er selbst durchläuft während dieser Suche einen Prozess der Selbsterfahrung und der Reife, und insofern ist dieser Roman auch ein Vertreter der Gattung „coming off age“. Doch als er schließlich seinen Freund tief im Dschungel findet, wartet eine Überraschung auf ihn, mit der er nicht gerechnet hat. Dabei erfährt er jedoch die wahren Gründe für Felix´ vermeintlich weltenbummlerische Reise, die in Wirklichkeit eine Flucht vor seiner eigenen Vergangenheit und seinen düsteren Erfahrungen war.

An dieser Stelle ist auch die Kritik an diesem ansonsten äußerst spannenden und authentischen Roman anzusetzen: Falix´ wahres Leben und seine negativen Welterfahrungen werden in all den Rückblenden in keinem Augenblick auch nur angedeutet. Er ist in den Augen all seiner Mitschüler und Lehrer der – durchaus sympathische – Unangepasste, freiheitlich Gesinnte und sogar Aufmüpfige, wie es halt Kinder mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein und Charisma sind. Seine tief gehenden, aus dem Familienumfeld stammenden Probleme lassen sich weder aus den Milieuschilderungen noch aus irgendwelchen dunklen Andeutungen erahnen. Es sieht so aus, als habe der Autor bis kurz vor Schluss selbst nicht gewusst, wie er Felix´Flucht und die sorgende „Verfolgung“ durch seinen Freund glaubhaft und schlüssig enden lassen kann. Und so fiel ihm am Schluss eine Variante ein, die sich aus verschiedenen Gründen schwer kritisieren lässt, aber dennoch ein wenig wie ein „deus ex machina“ wirkt. Dem schließt sich die Entscheidung des Ich-Erzählers am Schluss – zumindest da ist der Autor konsequent – mit einer gewissen Konsistenz an.

Fabian Busch liest das Buch mit einer jugendlichen Stimme, die zwar das Alter der Beteiligten glaubhaft widerspiegelt, jedoch oft nicht mit der Welterfahrung des Autors zusammenpasst. Vor allem die philosophischen Einschübe wirken in der jugendlichen Sprach- und Stimmgestaltung bisweilen ein wenig altklug. Aber das sind eher Kleinigkeiten, die dem Gesamteindruck dieses eindringlichen Hörbuchs keinen Abbruch tun.

Das Hörbuch ist im Verlag Hörbuch Hamburg erschienen, umfasst zwei mp3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von zehneinhalb Stunden und kostet 22 Euro.

Frank Raudszus

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