Herbert Kapfer: „1919“

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Vor etwas über einhundert Jahren, im November 1918, endete der Erste Weltkrieg durch den drohenden Zusammenbruch der deutschen Armee und die darauf folgende Revolution in Deutschland. Abdankung und Flucht des Kaisers, Auslieferung der deutschen Flotte an England und der vehemente Protest weiter Kreise – vor allem des Militärs – gegen den angeblichen „Verrat“ der Revolutionäre in der Heimat sowie die Kämpfe zwischen linken Revolutionären und rechten Freikorps waren die zentralen Ereignisse, die sich durch das gesamte folgende Jahr zogen und erst Ende 1919 ein vorläufiges Ende fanden.

Der Autor dieses Buches hat jetzt die belletristische und die dokumentarische Literatur gesichtet, die sich mit den Ereignissen dieses Jahres befasst und sie zum Jubiläumsjahr als Textcollage zusammengefasst. Dabei bezieht er sich im Wesentlichen auf größere, zusammenhängende Texte, die er unter Beachtung chronologischer Aspekte editorisch, aber nicht inhaltlich miteinander verflicht. Das bedeutet, dass er in allen Texten soweit möglich die jeweilige Jahreszeit eines Ereignisses identifiziert und die Kapitel dann chronologisch an die richtige Stelle setzt. Die verschiedenen Handlungsströme wechseln sich dann wie in einem spannenden Thriller ab, sie werden aber inhaltlich nicht miteinander verknüpft, da sie ja aus voneinander unabhängigen Werken stammen und der Autor grundsätzlich keine Änderungen vornahm. Seine Aufgabe sah Kapfer offensichtlich darin, durch die Auswahl der Texte eine möglichst breite Palette politischer, militärischer, gesellschaftlicher und privater Auswirkungen dieser historischen Zäsur darzustellen und dabei auch – wie im Roman – ein gewisse Spannung zu erzeugen.

Kapfer verzichtet deshalb auch auf die Nennung des jeweiligen Autors vor oder nach dem jeweiligen Kapitel. Das hätte dem Buch tatsächlich eher den Charakter einer Textsammlung gegeben, was nicht Kapfers Absicht entsprach. Stattdessen führt er alle Quellen korrekt in einem alphabetischen Register und zusätzlich in einem detaillierten Nachweis jedes einzelnen Kapitels auf. Die Leser können sich also bei Bedarf über die Quelle jedes einzelnen Kapitels informieren.

Neben vielen eher unbekannten Autoren – teils Revolutionäre, teils Reaktionäre – stehen auch einige bekannte Namen wie Oskar Maria Graf, Gustav Noske (erster Verteidigungsminister der Weimarer Republik), Ludwig von Reuter (Admiral der Kaiserlichen Marine), Ernst von Salomon, Ernst Toller und Heiner Müller auf der Liste der Quellen.

Bei der Auswahl der Themenfelder hat sich Kapfer auf zentrale politische Entwicklungen dieses Jahres beschränkt. Da stehen einmal die Kämpfe Links gegen Rechts – vor allem in den Berliner Straßen – im Vordergrund. Der Autor kann dies natürlich nur im Rahmen der vorliegenden Literatur gestalten. Die Geschichte eines jungen Mannes, der desorientiert durch das revolutionäre Berlin läuft, eine junge, aus dem Baltikum vor den Bolschewisten geflüchtete Frau kennen und lieben lernt, die dann an einer verirrten Kugel des allgegenwärtigen Straßenkampfes stirbt, erweckt diesen chaotischen Zeitraum zum Leben. Die Internierung und Selbstversenkung der Kriegsflotte in Scapa Flow fügt diesem Bild den Ehrenkodex des Militärs am Beispiel der Marine hinzu. Zwar ist es verständlich, dass ein Offizierskorps nicht gewillt ist, die eigenen Waffen kampflos an den Feind zu übergeben und stattdessen die Selbstversenkung wählt, doch die nebenbei geäußerte „Feststellung“ des Admirals Reuter in seinem ansonsten eher nüchternen Bericht, die Deutschen seien von Natur aus „geistig höher stehend“ als die Engländer, wirft ein grelles Licht auf das Selbstverständnis des wilhelminischen Offizierskorps.

Ein weiteres Beispiel des militärischen Denkens liefern die Berichte der Freikorps, die im Baltikum auf eigene Faust – und gegen die Weisung der neuen Regierung! – gegen die Bolschewisten kämpften. Diese Freikorpskämpfer waren durch vier Jahre brutalen Krieges entwurzelt und akzeptierten nicht, dass alles, wofür sie vermeintlich gekämpft hatten – Kaiser, Deutsche Weltgeltung etc. – auf einmal nicht mehr galt. Diese Soldaten hassten die neue Regierung als „Verräter“ am Volk und kämpften im Baltikum um des Kämpfens willen weiter.

Auch der Mythos „Blut und Boden“ kommt hier zum Vorschein, wenn in einem anderen Roman eine Gruppe vom Ausgang des Krieges enttäuschter und verbitterter Offiziere von einem – natürlich aufrecht monarchistischen – adligen Gutsbesitzer Land erhalten und auf dieser Scholle eine erdverbundene, „urdeutsch aufrechte“ Siedlergemeinschaft mit unverbrüchlicher Treue untereinander und zum alten System errichten. Reaktion pur in Literatur gegossen.

In einem weiteren Roman, der sich kapitelweise durch das ganze Buch zieht, geht es um eine geheime unterirdische Höhlenstadt an der feindlichen italienischen Küste, die nur unter Wasser zugänglich ist und zufällig von deutschen U-Booten gefunden wurde. Diese Stadt wird zum Symbol für unverbrüchliche Treue und Standhaftigkeit des deutschen Soldaten, und in einer geradezu fantastischem Volte à la Science Fiction rettet diese verschworene Gemeinschaft Deutschland vor der Schmach der Niederlage und des Versailler Friedensvertrages.

Bemerkenswert ist in diesem Beitrag wie auch in manchem anderen der „hohe Ton“, der noch aus der bürgerlichen und literarischen Welt des späten „kaiserlichen“ 19. Jahrhunderts stammte und geradezu naiv Begriffe wie „hehr“, „stolz“, „leuchtende Augen“ oder „aufrechter Blick“ verwendete. Das Beharren auf diesem Stil zeigt einerseits die Sehnsucht nach vermeintlich guten alten Zeiten und andererseits die Unfähigkeit, die neuen Realitäten anzuerkennen. Doch das Entsetzen über die Zustände im Jahr 1919 schimmert durch diesen „hoh(l)en“ Stil unverkennbar durch, und andere Autoren ersetzen ihn bereits durch einen expressionistischen, desillusionierten Stil.

Daneben laufen noch weitere kleinere Handlungsstränge von obdachlosen Vagabunden, die der Krieg verweht hat und die jegliche Orientierung verloren haben oder von tapferen Marineoffizieren, die den Kaiser aus der Verbannung zurückholen wollen und – ironischerweise – durch Eifersuchtskämpfe sterben. Das veritable „Lustspiel“ eines Karl Polenske bringt die Situation in der bayrischen Regierung und der kurzlebigen Münchner Räterepublik auf den Punkt.

Herbert Kapfer hat mit dieser Textcollage ein ebenso spannendes wie kontrastreiches Kompendium des Jahres 1919 geschaffen. Die Leser sollten sich aber zu jedem Zeitpunkt darüber im Klaren sein, dass die unterschiedlichen politischen Positionen nicht die Meinung des Autors widerspiegeln, sondern gerade in ihrem linken und rechten Extremismus die Zerrissenheit eines Volkes aufzeigen sollen, das aus den Höhen der eigenen Machtverliebtheit und Selbstüberschätzung auf den Boden der Realität in Gestalt einer totalen Niederlage und demütigender Friedensbedingungen gestoßen wurde.

Das Buch ist im Verlag Antje Kunstmann erschienen, umfasst 421 Seiten und kostet 25 Euro.

Frank Raudszus

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