Armin Nassehi: „Muster“

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Seit etwa zwei Dekaden, mit dem endgültigen Durchbruch des Internets als weltweites Kommunikations- und Bezugssystem, wächst die Literatur zum Thema Digitalisierung. Wurden Computer in der Literatur, speziell der soziologischen und politischen, bis dahin entweder als geheimnisvolle, im besten Sinne ergebnisoffene Technik oder als nebulöse zukünftige Bedrohung im Sinne der Science Fiction behandelt, kam mit dem Internet sowie Google, Facebook & Co. die aktuelle Bedrohung in Form von Datenmissbrauch und Überwachung in den Fokus der Fachliteratur. Dabei wurde und wird die Digitalisierung meist als Störung eines etablierten und gewissermaßen eingeschwungenen gesellschaftlichen Zustands betrachtet.

Der Soziologe Armin Nassehi räumt jetzt mit dieser Sicht auf und stellt in dem vorliegenden Buch die These auf, dass die Digitalisierung in gewisser Weise nicht Urheber grundsätzlicher Probleme, sondern die Lösung eines Problems darstellt. Damit meint er als Soziologe natürlich nicht den unbestrittenen Effizienzgewinn in Firmen und Organisationen, sondern etwas viel Grundsätzlicheres: für ihn ist die Gesellschaft selbst digitaler Natur, ermangelte jedoch lange Zeit der Möglichkeiten, diese Natur „auszuleben“. Die technische Digitalisierung kam daher wie ein Geschenk, das die Gesellschaft als Ganzes dankbar aufnahm.

Dazu rekurriert er einmal auf die Eigenart der digitalen Technik, alle Funktionen auf einfachste Prinzipien zurückzuführen, nämlich die Unterscheidung in „0“ und „1“. Diese „Einfalt“ (so nennt er es) der Digitalisierung erlaubt eine prinzipiell unendliche Menge von Rekombinationen und Konstrukten, da die Grundelemente keinerlei eigene Bedeutung tragen. Als Gegenbeispiel erwähnt er den Unterschied zwischen der chinesischen Zeichensprache und dem westlichen Buchstabensystem. Die hoch aufgeladenen chinesischen Zeichen (etwa 6000) erlauben nur eine begrenzte Zahl von Kombinationen, während die nur 26 Buchstaben unseres Systems wegen der fehlenden Bedeutung des einzelnen Elements nahezu beliebig viele Kombinationen ermöglichen.

Eine ähnliche „Digitalisierung“ verortet er in der (westlichen) Gesellschaft. Alle Funktionssysteme der Gesellschaft basieren demnach ebenfalls auf einfachen Grundelementen: „zahlen/nicht zahlen“ in der Wirtschaft, „glauben/nicht glauben“ in der Religion, „wahr/unwahr“ in der Wissenschaft, „Macht(losigkeit)“ in der Politik und „legal/illegal“ im Rechtswesen. Aus diesen einfachen Grundelementen lassen sich weit mehr neue Kombinationen (Theorien, Gesetze, Strategien, etc.) schaffen, als wenn jeder einzelne Teilbereich bereits auf einem in sich geschlossen Satz von Dogmen beruhen würde.

Nassehi führt diese gesellschaftliche Situation auf drei „Entdeckungen der Gesellschaft“ zurück. Die erste erfolgte nach der französischen Revolution, als sich aufgrund der „einfachen“(!) Grundrechte frei definierbare Institutionen wie Parlamente oder Gewaltenteilung entwickelten. Die zweite „Entdeckung“ verortet er Mitte des 20. Jahrhunderts, als die letzten Reste traditioneller Gesellschaftssysteme mit ihren nicht hinterfragten Vorurteilen verschwanden und einer breiten Vielfalt bisher unterdrückter Minderheiten Platz machten. Die dritte Entdeckung schließlich sieht er in der Digitalisierung, die sich am deutlichsten in der Existenz und der Bedeutung des Internets niederschlägt.

Man kann diese drei „Entdeckungen“ auch an den jeweiligen gesellschaftlichen Techniken ablesen: die erste führte zu säkularen Wissenschaften, für die Darwins Evolutionstheorie das beste Beispiel ist. Die zweite führte zu durchorganisierten Wirtschafts- und Verwaltungssystemen, die sich aber wegen des rudimentären Zustandes der Digitalisierung kaum organisations- und staatenübergreifend realisieren ließen. Erst die Digitalisierung seit den neunziger Jahren hat mit dem Internet und „Big Data“ diese letzte Lücke geschlossen.

Mit diesen „Entdeckungen“ wuchs auch der Wunsch, vermutete und unbekannte Strukturen der Gesellschaft nachzuweisen bzw. zu entdecken. Das gelingt aber erst mit der Digitalisierung und der Verarbeitung großer Datenmengen. Gesellschaften sind wie technische Systeme für den normalen Beobachter intransparent, d.h. nur die „Benutzeroberfläche“ lässt sich beobachten. Mit der Verarbeitung von Massendaten jedoch lassen sich diese inneren Mechanismen entdecken. Da der Gesellschaft nach den ersten beiden „Entdeckungen“ ein immanenter Drank nach gesellschaftlichen Erkenntnissen eigen war, kam die Digitalisierung wie gerufen. Nicht nur die Theorien, die vorher nur auf dem Papier standen, ließen sich jetzt am Datenmaterial überprüfen, sondern dieses konnte auch völlig neue Erkenntnisse liefern – und tat es.

In den Daten sieht Nassehi eine „Verdoppelung“ der Welt. Das war zwar schon beim Buchdruck der Fall, der eine Verdoppelung in Form von belletristischer und fachlicher Literatur zur Folge hatte, doch wegen der vergleichsweise schmalen Verbreitung und vor allem wegen der fehlenden Verarbeitungsmöglichkeiten dieser (verdoppelten) Daten blieb die Verwendung auf die Rezeption durch die Leser beschränkt. De facto führt diese „Verdoppelung“ zu Parallelwelten ideologischer, technischer, religiöser und wirtschaftlicher Art, doch konnten sich diese Parallelwelten wegen der fehlenden (digitalen) Kommunikationsnetze lange Zeit nicht konkretisieren. Mit der Digitalisierung ist dies nun im positiven wie negativen Fall möglich. Auch hier löst die Digitalisierung ein „Problem“, dass die Gesellschaft bereits längere Zeit beschäftigte.

Ein anderes Phänomen, das Nassehi in den Vordergrund rückt, ist die „Widerständigkeit“, ja Trägheit gesellschaftlicher Strukturen. Das mussten schon die Revolutionäre von 1789 leidvoll erkennen, denen ein sich selbst zum Kaiser krönender Napoleon und dann die Restauration folgte. Die letzte Erkenntnis von Widerständigkeit mussten die 68er widerstrebend akzeptieren, als ihr revolutionärer Impetus (nach ihrer Sicht) in Reformen versickerte. Diese Widerständigkeit kommt auch der Digitalisierung zugute, denn als funktionierende Technik wurde sie von der Gesellschaft trotz politischer und ideologischer Kritik nicht nur akzeptiert, sondern in Gestalt von Google & Co. geradezu umarmt. Nassehi weist in diesem Kontext darauf hin, dass funktionierende Technik nicht den Konsens benötigt, sondern einfach genutzt wird. Die Politik, die Ideologien und die (soziologischen) Theorien jedoch setzen seit je auf den gesellschaftlichen Konsens bei allen wichtigen Entscheidungen und Entwicklungen. So unterläuft die Digitalisierung wegen ihres Funktionierens die Versuche, sie im Sinne eines Konsenses in ihre Schranken zu verweisen.

Nassehi sieht durchaus die Risiken und Gefahren einer ungebremst sich entwickelnden Digitalisierung, glaubt jedoch gerade wegen der Widerständigkeit gesellschaftlicher Strukturen nicht daran, die Digitalisierung nach politischen oder ideologischen Kriterien steuern zu können – es sei denn im Rahmen eines autoritären Systems wie Russland oder China. Aber selbst dort wird das Internet (als „Gesicht“ der Digitalisierung) nicht abgeschafft, sondern nur nach machtpolitischen Kriterien beschränkt. Es geht ihm in diesem Buch auch nicht um die konkreten Gefahren und Risiken, sondern um die Erkenntnis der Wesensähnlichkeit von Gesellschaft und Digitalisierung und die daraus zu ziehenden Konsequenzen. Wer kein totalitäres System errichten will (oder kann), muss diese Kongruenz akzeptieren und das Beste daraus machen anstatt weiterhin dem Dualismus von Gesellschaft und Digitalisierung zu frönen.

Nassehi spricht in diesem Kontext noch viele konkrete Punkte der Digitalisierung an, so etwa die Künstliche Intelligenz. In diesem Fall unterscheidet er zwischen „erlebenden“ und „handelnden“ Systemen. Erstere analysieren und deuten gegebene Datenmengen nur, zum Beispiel statistische Erhebungen zu Gesundheit oder zur politischen Einstellung der Bevölkerung; letztere jedoch ziehen aus den gegebenen Daten eigene Konsequenzen und fällen Entscheidungen, etwa ein autonomes Auto im Falle eines drohenden Unfalls. Nassehi sieht Handlungsbedarf bei den „handelnden“ Systemen der KI, keinen jedoch bei den „erlebenden“, die letztlich nur der Erkenntnis dienen. Auch hier sieht er jedoch im Kontext einer um sich greifenden Irrationalität die Gefahr einer pauschalisierten Verd[a/u]mmung.

Nassehi bürstet seine eigene Wissenschaft, die Soziologie, auch an anderen Stellen gerne gegen den normativen Strich. Gerade Soziologen liebäugeln ja seit Frankfurter Schule und Positivismusstreit gerne mit weiter gefassten politischen bzw. ethischen Normen. Nassehi setzt dagegen die Logik, die sich seiner Ansicht nach auch durch eine „richtige“ Gesellschaftsauffassung nicht aushebeln lässt. Er zeigt dies exemplarisch am Beispiel der „informationellen Selbstbestimmung“, die heute im Kontext der „social media“ und des Datenschutzes gerne ins Feld geführt wird. Aus einer logischen Perspektive gehört die Information über einen Menschen nicht zu ihm sondern zum Beobachter, weswegen die „informelle Selbstbestimmung“ für ihn auch eine „contradiction in adiecto“ darstellt. Weit entfernt davon, diese Erkenntnis konkret gegen überzogenen Datenschutz ins Feld zu führen, weist er jedoch darauf hin, dass man den Begriff der Daten erst einmal logisch vollständig erfassen und durchdenken müsse, ehe man allgemeine normative Sätze aufstellt. Eben das hat Nassehi in diesem Buch so umfangreich wie detailbesessen getan, und dabei hat er erst einmal die Logik walten lassen.

Das wird ihm so mancher normativ gepolte Fachkollege sicher nicht verzeihen, Realisten à la Popper werden ihm jedoch nur zustimmen können. Das Buch ist allerdings keine leicht Kost und erfordert neben einigen informationstechnischen und soziologischen sowie philosophischen Kenntnisse wegen der kompakten Schreibweise, die keinen überflüssigen Satz kennt, viel Konzentration. Aber dann lohnt sich die Lektüre auch.

Das Buch ist im Verlag C. H. Beck erschienen, umfasst 352 Seiten und kostet 26 Euro.

Frank Raudszus

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