Tragödie im altberliner Dialektdschungel

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Gerhart Hauptmann ist bekannt als naturalistischer Autor der vorletzten Jahrhundertwende, der in seinen Stücken vor allem die katastrophalen sozialen Verhältnisse und die Empathielosigkeit der Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert kritisierte. Man kann in Zeiten ganz anderer sozialer Verhältnisse durchaus fragen, welchen Zweck die Aufführung eines solchen, am zeitlichen Kontext orientierten Stückes verfolgt, abgesehen vom archivarischen Ziel eines „so war das damals“. Die Behauptung, die Dinge hätten sich nicht grundlegend verändert, kann jedenfalls nicht mehr überzeugen.

Ensemble

Doch man kann Hauptmanns Stück in erster Linie als Beispiel der Gleichgültigkeit inszenieren, und dann gewinnt es eine bleibende Wirkung. Die Regisseurin Felicitas Brucker tut dies am Schauspiel Frankfurt, indem sie eine kalte Gesellschaft zeigt, die kein Interesse gegenüber den Problemen der Mitmenschen aufbringt und einzig dem Sozialdarwinismus frönt. Damit trifft sie einen zeitlosen Kern.

Das beginnt schon beim Bühnenbild, einem großen Glasrondell, das entfernt an die heute üblichen abweisenden Bürogebäude erinnert. Man kann es auch als liegendes Hamsterrad interpretieren, in dem die Bewohner täglich ihren Lauf ums Überleben absolvieren müssen. Hier lädt keine gemütliche Ecke zum Verweilen oder zum Rückzug ins Private ein, und die Glaswände haben eine gnadenlose Transparenz zur Folge.

Hier kämpfen Frau John (Patrycia Ziolkowska), die schon früh ihr kleines Kind verlor, und die unfreiwillig schwangere Dienstmagd Pauline um das Leben des ungeborenen Kindes, denn Pauline will sich umbringen. Frau John kauft das Kind ab und gibt es für Ehemann und Nachbarn als ihr eigenes aus. Doch Pauline behauptet kurz nach der Geburt, das Kind sei nur in Pflege gegeben, und will es zurückholen. Daraufhin bringt Frau Johns missratener Bruder Bruno Pauline bei dem Versuch um, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Als Stück für Stück die Wahrheit herauskommt, bringt Frau John sich um, und das Kind ist nun endgültig echte Waise.

Patrycia Ziolkowska, Fridolin Sandmeyer

Hauptmann hat diesen Handlungsstrang bewusst in einem prekären Milieu angesiedelt, weil hier ungewollte Schwangerschaften sowie Kindersterblichkeit – u. a. wegen der hygienischen Verhältnisse – besonders ausgeprägt waren. Die Regisseurin lässt die Protagonisten dieser Schicht auch bewusst im – teilweise angelernten – Berliner Dialekt und mit hoher Lautstärke reden. Mangelnde intellektuelle und verbale Fähigkeiten werden hier schnell mit Lautstärke kompensiert. Der zweite Handlungsstrang spielt in einem bürgerlichen Bildungsmilieu in demselben lokalen Kontext. Hauptmann gelingt dies, indem er den Chef eines Theaters hier sein Requisitenlager sowie eine „Dependance“ für Schäferstündchen anlegen lässt. Dadurch verschränken sich die beiden Handlungsstränge und stoßen ungefiltert aufeinander. Hier bittet ein unglücklicher Theologiestudent nach dem Abbruch des Studium um Schauspielunterricht, wird aber vom Theaterdirektor mit deutlichen Worten abgewiesen. Hauptmann nutzt diese Szene für einen dialektischen Schlagabtausch über Sinn und Aufgaben des Theaters zwischen einem idealistischen Utopisten und einem arroganten Pragmatiker mit latentem Hang zum Zynismus. Doch angesichts des existenziellen Kontextes der anderen Hausbewohner wirkt dieser Handlungsstrang etwas weltfremd und intellektuell aufgesetzt. Dennoch servieren Sebastian Kuschmann (Theaterdirektor) und Samuel Simon (Student) hier ein kurzes intellektuelles Feuerwerk, das einen Kontrast zum unbeholfenen Ringen um Worte der anderen Hausbewohner darstellt.

Ensemble

Da dieses Stück die sozialen – sprich: die materiellen – Zustände nur implizit angespricht, konzentriert sich alles auf die emotionalen Bedürfnisse. Frau John kämpft um ein wenig Glück im Diesseits mit Mann und Kind(ern) und versucht dabei, allen gerecht zu werden, selbst ihrem alkoholsüchtigen Bruder. Sie ist die eigentlich tragische Figur, denn sie glaubt bis zum Ende an die Möglichkeit des Glücks. Selbst den zum Mörder gewordenen Bruder tröstet sie noch, sich selbst kann sie aber zum Schluss nicht mehr helfen. Auch das Mädchen Pauline hofft zumindest auf ein wenig Glück, nachdem Frau John ihr den Selbstmord ausgeredet und sie das Kind gemeinsam zur Welt gebracht haben. Verständlich, dass sie ihr Kind später zurückhaben möchte und dabei auch mit Drohungen arbeitet. Selbst der meist auswärts arbeitende Herr John freundet sich mit der Rolle des Vaters an und verstößt seine Frau erst, als er von den Vorgängen im Einzelnen erfährt.

Folgerichtig lässt Felicitas Brucker die Darsteller diese Emotionalität voll ausspielen, wobei recht viel geschrien wird, vor allem von den Männern – Herr John (Andreas Vögler), Bruno (Fridolin Sandmeyer) und der Student (Samuel Simon). Dagegen stellt er die kontrollierte, vordergründig rationale Art der Bildungsbürger. Die Doppelmoral des Theaterdirektors spielt Sebastian Kuschmann mit blasierter Weltläufigkeit, seine Frau (Katharina Linder) gibt die herrschaftlich freundliche aber letztlich hochmütige Frau aus besseren Kreisen, und Pastor Spitta (Peter Schröder), Vater des ratlosen Studenten, erinnert in seiner kalten Bigotterie an den Pastor in Hanekes Film „Das weiße Band“.

Ensemble

Die Inszenierung leidet trotz der Bemühungen der Darsteller ein wenig unter der lautstarken Artikulation im Berliner Dialekt. Ist schon Lautstärke an sich stets ein Problem für die Verständlichkeit des Bühnengeschehens, so verstärkt sich dieser Effekt noch, wenn die Texte in grammatisch verkürzten Sätzen im Berliner Dialekt förmlich herausgeschrien werden. Die Tatsache, dass einige Darsteller sich diesen Dialekt antrainieren mussten, ist dabei nicht gerade hilfreich, denn mit zunehmender Spieldauer, zunehmender Emotionalität des Geschehens und nachlassender Konzentration der Darsteller wird die Artikulation nicht gerade verständlicher. So bleibt mancher Dialog textlich unverständlich und muss aus dem Kontext nachempfunden werden.

Doch die darstellerischen Leistungen vor allem der zentralen Figuren kompensieren diese Schwächen weitgehend. Dabei überzeugen vor allem Patrycia Ziolkowska als unermüdlich hoffende Frau John, Sarah Grunert als verzweifelt kämpfende Pauline und Andreas Vögler als emotional überforderter Ehemann John. Samuel Simon (Student) und Fridolin Sandmeyer (Bruno) haben mit dem Handicap eindimensionaler Rollen zu kämpfen, spielen ihre Rollen aber glaubwürdig. Alice Knobbe als Geliebte des Theaterdirektors, Altine Emini als Tochter dessen Tochter und Kristin Alia Hunold als Dienstmädchen Selma runden das Ensemble ab.

Eine über weite Strecken überzeugende Inszenierung, deren Aktualität jedoch zumindest diskussionswürdig ist.

Frank Raudszus.

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