Ivan Krastev/Stephen Holmes: „Das Licht, das erlosch“

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Mit dem Fall der Berliner Mauer, dem anschließenden Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und der Auflösung der Sowjetunion sahen viele Zeithistoriker und Philosophen das westliche Modell der liberalen Demokratie nicht nur auf der Siegesstraße, sondern auch als verbindliches Ordnungssystem der Zukunft für den Rest der Welt. Francis Fukuyama wähnte sogar des „Ende der Geschichte“ gekommen.

Dreißig Jahre später sind all diese Träume einschließlich der euphorisch eingeforderten „Friedensdividende“ verflogen, und autoritäre, nationalistische Tendenzen haben sich bis in die Kernländer des Westens – Stichwort „Trump“ ausgebreitet. Heute stehen wir vor einer neuen Konfrontation, derzeit zwischen dem „Westen“ und Russland, aber in zunehmendem Maße auch schon gegenüber China,

Der bulgarische Demokratieforscher Ivan Krastev und der US-Rechtswissenschaftler Stephen Holmes gehen den Ursachen dieser unerwarteten Entwicklung nach und analysieren in dem vorliegenden Buch die Randbedingungen und Voraussetzungen der dreißigjährigen Epochen nach der „Wende“.

In den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stellen sie den Begriff der „Nachahmung“. Mit der Auflösung des Warschauer Paktes ergaben sich für dessen vormaligen Mitglieder unterschiedliche Optionen. Die osteuropäischen Sowjet-Satelliten – von Estland bis Bulgarien – fühlten sich befreit und strebten wegen der schlechten Erfahrungen mit der repressiven UdSSR gen Westen, das reduzierte Russland dagegen trauerte von Anfang an dem verlorenen Weltmachtstatus nach.

Das führte laut Krastev/Holmes zu verschiedenen Reaktionen. Die osteuropäischen Länder verfielen danach in einen fast schon euphorischen Nachahmungsmodus, der die vollständige Angleichung zum Westen zum Ziel hatte. Die ökonomische Rückständigkeit verhinderte jedoch eine schnelle Assimilierung. Nach einer anfänglichen Phase der Euphorie und Reformfreudigkeit verließen die mittlerweile gut ausgebildeten und hoch motivierten Jüngeren ihre Heimatländer und wechselten in den Westen. Die wenigsten kehrten zurück, so dass sich die demographische Situation in diesen Ländern dramatisch verschlechterte. Darüberhinaus erfolgte die „Wende“ in diesen Ländern ohne externe Überwachung wie in der DDR. Dadurch konnten sich die – ehemals kommunistischen – Nomenklaturen selbst als gewandelte „Liberale“ präsentieren, was sie einschließlich kräftiger Bereicherung auch taten. Das und die negative demographische Entwicklung führten zu einer starken Verbitterung der Bevölkerung, für die der westliche Liberalismus durch den Missbrauch der lokalen Eliten seine Attraktivität verloren hatte. Das wiederum erlaubte Politikern wie Kaczynski (Polen) oder Orbán (Ungarn), deutliche Mehrheiten für eine identitäre und illiberale Politik zu gewinnen. Vermeintliche nationale Traditionen und verderbliche Einflüsse der Globalisierung ließen sich als zündende Argumente verwenden.

Ganz anders sehen die beiden Autoren die Situation in Russland. Dort herrschte schon allein aus verletztem Großmachtstolz nie der Wunsch, wie der Westen zu sein. Um die chaotischen neunziger Jahre zu überstehen, „simulierte“ man dort die Nachahmung westlicher Demokratien und nutzte sie ausschließlich als „Nachahmung der Mittel“, d.h. man ahmte nur das nach, was kurzfristigen politischen oder (persönlichen) ökonomischen Erfolg versprach. Mit Putins Machtergreifung um die Jahrtausendwende schlug die Nachahmung vollständig in eine karikierende weil spiegelnde Version um. Die internationalen Interventionen der angeblich liberalen und demokratischen USA lieferten die Vorbilder für eigene Aktionen, die bewusst als entlarvende Nachahmungen des angeblichen westlichen Vorbilds gemeint waren. Krastev und Holmes führen als Beispiele dafür den georgischen Krieg, die Annexion der Krim und das Engagement in Syrien an. Sie unterstellen sogar bis zu einem gewissen Grad, dass es in jedem dieser Fälle Putin gar nicht so sehr um den jeweiligen konkreten – sowieso fragwürdigen – Nutzen ging, sondern hauptsächlich um die Bloßstellung der westlichen Siegermächte des Kalten Krieges. Gerade Putin als Offizier des sowjetischen Geheimdienstes KGB habe es nie verwunden, dass der Westen das ideologische Wettrennen so leicht und ohne „Showdown“ gewonnen hatte.

Ein umfassendes Kapitel widmen die beiden Autoren auch dem neuen, an der Grenze zum Illiberalismus agierenden Trump-Amerika. Abgesehen von seiner überschaubaren Intellektualität, die sie mit deutlichen Worten benennen, schreiben sie ihm ähnliche Charaktereigenschaften wie Putin zu. Der jahrhundertelange „Exzeptionalismus“ der USA, mit dem diese sich selbst eine weltweite Vorbildfunktion für Demokratie und Liberalismus zuschrieben, ist für Trump traurige Geschichte. Für ihn geht es nur noch um Sieg oder Niederlage, wobei er auch keine Bündnispartner mehr kennt, sondern jede andere Nation – auch die NATO-Staaten – als Konkurrenten sieht. Auch politische Lügen gehören für ihn zum (Kriegs-)Spiel, weswegen öffentliche Widerlegungen seiner Lügen – „alternative Fakten“ – ins Leere laufen. Die lautstarke Beschimpfung aller ihn widerlegenden Institutionen gehört für ihn zum Ritual des Kampfes um den Sieg. Seine Anhänger interessieren sich nicht für „wahr“ oder „falsch“, sondern nur für den Kampf gegen die ausbeuterische und egoistische (inter)nationale Elite. Trumps großer Vorteil besteht darin, dass er die Ressentiments und die Angst seiner Anhänger vor Identitäts- und Statusverlust kennt und skrupellos für sich nutzt. Denn die Globalisierung hat der unteren weißen Mittelschicht der USA große Einbußen beschert, die deren Mitglieder wahlweise anderen Ländern (China, Deutschland), nationalen Eliten (Demokraten) oder Migranten anlasten.

Diese am ehesten an die frühe Western-Ideologie erinnernde Weltsicht Trumps erklärt auch seine Vorliebe für autoritäre Herrscher wie Putin oder Kim Jong Un. Er bewundert ihre Fähigkeiten, ihre Völker nach ihrem Gutdünken zu beherrschen und sogar ihre geopolitischen Machtansprüche durchzusetzen. Dass die Auseinandersetzung mit diesen Machthabern mit deren skrupellosen Strategien apokalyptische geopolitische Folgen zeitigen kann, interessiert Trump nicht, solange er der Sieger bleibt. Mit dieser so offenen wie beängstigenden Frage beenden die Autoren das Trump-Kapitel.

Den Schluss des Buches bildet eine längere Analyse des Aufstiegs Chinas. Diesem Land attestiertieren die Autoren eine „Nachahmung als Aneignung“. Die chinesischen Machthaber interessieren sich nicht für die – liberalen und demokratischen – Ziele des Westens, sondern nur für dessen technologische Entwicklungen. Laut den Autoren sieht China sich nicht als klassischen Staat im westlichen Sin, sondern als Kultur, die allen anderen überlegen ist. Diese aus Vorzeiten stammende Selbstsicht kollidierte mit der Kolonialisierung durch den Westen im 19. Jahrhundert, die bis heute eine tiefe Verbitterung bei den chinesischen Eliten hinterlassen hat, ähnlich wie bei den Russen nach 1990, aber tiefer gehend. Krastev und Holmes deuten Chinas Weltpolitik als Abbild des eindeutigen Ziels, die führende Weltmacht zu werden. Demokratie und Liberalismus sind dabei nur hinderlich und gehören einer vergangenen Zeit an. Die Erwerbung westlichen (technologischen) Wissens mit allen legalen und illegalen Mitteln steht derzeit im Vordergrund aller Strategien und Aktivitäten. Sobald der Gleichstand erreicht ist, gilt es für China, die weltweiten Absatzmärkte für die eigenen Produkte durch wirtschaftlichen, politischen und – bei Bedarf – auch militärischen Druck zu sichern. Die Regierungsformen dieser anderen Länder sind bedeutungslos, solange sie China nicht missionarisch angeboten werden. Doch die Autoren dieses Buches betonen, dass Chinas Regierung grundsätzlich keine Befürchtungen gegenüber dem westlichen Liberalismus hege, da sie einerseits die chinesische Kultur allen anderen als überlegen und damit als nicht manipulierbar betrachtet, andererseits die eigene Gesellschaft durch ein perfektes Überwachungssystem gegen alle fremden Einflüssen abschotten zu können glaubt.

Auch das China-Kapitel beschließt das Autoren-Duo ohne spekulative – optimistische oder pessimistische – Ausblicke auf die weitere Entwicklung, geschweige denn, dass die beiden konkrete Handlungsempfehlungen – an wenn auch immer – aussprechen. Doch allein schon die nüchterne Darstellung der Fakten und die einleuchtende Analyse der Strategie verdeutlichen die geopolitische Brisanz der Lage und die potentiellen Folgen einer einerseits erratischen andererseits machtorientierten Strategie.

Dieses Buch besticht durch die kompakte, konsistente und nachvollziehbare Analyse der geopolitischen Entwicklung in den letzten dreißig Jahren. Es bleibt dem Leser überlassen, die kurz- und mittelfristigen Konsequenzen dieser explosiven Gemengelage in all ihren Varianten durchzuspielen.

Das Buch ist im Ullstein-Verlag erschienen, umfasst 366 Seiten und kostet 26 Euro.

Frank Raudszus

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