Andreas Barthelmess: „Die große Zerstörung“

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Die digitale „Disruption“ mit der enormen Beschleunigung und Automatisierung aller Lebensbereiche ist seit Hararis „Homo Deus“ ein zentrales Thema der Diskussionen – zumindest im Westen. Während Harari das Thema aus philosophisch-intellektueller Perspektive angeht, wählt Andreas Barthelmess den pragmatischen Alltagsblick eines IT-Experten. Erst Anfang vierzig, hat er bereits eine Karriere als Gründer eines Startups hinter sich und in dieser Funktion eine Fülle technischen Wissens angesammelt. Hier spricht also einmal jemand über die gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung, der sich in dem Metier auskennt und sich ihm nicht wie „schwarzer Magie“ nähert.

Das ist durchaus positiv zu bewerten, kommt aber in diesem Buch mit dem Nachteil einer gewissen Oberflächlichkeit daher, da Barthelmess thematisch einfach zu sehr in die Breite geht. Wie so mancher andere Autor erliegt er der Versuchung, die komplexe Vielfalt der technischen und gesellschaftlichen Gegenwart vollständig abdecken zu wollen. Angesichts des Umfangs dieses Buches kann das nur auf Kosten der Genauigkeit und Systematik gehen. Aufgrund der Fülle der – zugegebenermaßen zusammenhängenden – Themen kann er auf jedes nur in begrenztem Umfang eingehen und verzichtet daher auf tiefer gehende Analysen. Das heißt nicht, dass er mit Klischees und abstrusen Behauptungen aufwartet. Ganz im Gegenteil würde man der überwiegenden Mehrheit seiner Aussagen oder Begründungen nach intuitivem Gefühl zustimmen, was aber heißt, dass er die Kausalität nicht weiter führt als unser aller gefühltes Wissen uns sagt. Das hinterlässt über längere Strecken das etwas schale Gefühl, all das schon mehr als einmal gehört zu haben oder sowieso zu wissen. Wenn er etwa kausale Aussagen über den Tod der (herkömmlichen) Politik dank Instagram trifft, klingen diese erst einmal einleuchtend, etwa: Instagram befriedigt die (Sehn)Sucht der Menschen nach Selbstbestätigung und Schönheit, die Politik dagegen erzeugt mit unbefriedigenden Kompromissen nur Frustration. Doch es fehlt jeglicher wissenschaftlich-empirische oder gar ein logisch herbeigeführter Beweis dieser Kausalität. Bösartig könnte man in dieser Weise auch schließen, dass sich die Sonne um die Erde dreht, weil sie ja morgens im Osten aufgeht und abends im Westen untergeht.

Unabhängig von dieser grundsätzlichen Kritik fasst Barthelmess jedoch die Realität auf so eindrückliche wie verständliche Weise zusammen, dass sich das Buch fast wie ein Tech-Krimi liest. Die ersten Kapitel beschreiben die rasante Entwicklung der weltweiten Vernetzung, wie er sie in seiner bisherigen, vergleichsweise kurzen beruflichen Lebenszeit erlebt hat. Von piepsenden Modems der frühen Neunziger über die naive Begeisterung früher Browser-Benutzer bis hin zu den allgegenwärtigen „Social Media“ der Gegenwart schildert er die kurze Geschichte des Internet und seiner Folgen. Dabei stellt er das Phänomen des „The winner takes it all“ der digitalen Ökonomie der „behäbigen“ Industriekultur des 20. Jahrhunderts gegenüber. Letztere kannte zwar auch Monopole und versuchte sie zu begrenzen, sah aber keinen inhärenten Monopol-Mechanismus. Netzwerkanwendungen wie Facebook oder Amazon jedoch beinhalten Barthelmess´Meinung nach eine immanenten „positive Rückkopplung“, die ab einer bestimmten Größe zwangsläufig zum Monopol führt. Das größte Netzwerk bietet den Nutzern – Endkunden wie Werbetreibenden – den größten Nutzen, so die Argumentation. Das ist bei Auto- oder Chemiekonzernen nicht im selben Maße der Fall. Auch hier ist man geneigt, ihm Recht zu geben, doch fehlt – zumindest in diesem Buch – der zwingende Beweis. Allerdings weist er darauf hin, dass eben dieser Glauben dazu führt, dass jedes einigermaßen Erfolg versprechende Startup mit viel Geld zum Marktführer vorangepeitscht wird, weil nur diese Position dauernden Erfolg verspricht. Einer solchen „Glaubensstrategie“ kann man natürlich mit logischen Argumenten nicht kommen, hier würde nur andauernder Misserfolg zum Umdenken zwingen. Barthelmess bewegt sich also in vielen Argumentationen auf dem logischen Niveau von Investoren, die eher an Spieler als an Analysten erinnern.

Zu recht besonders kritisch sieht er die fehlenden „Gatekeeper“ der sozialen Netzwerkanwendungen – Google, Amazon, Facebook – und legt den inneren Widerspruch offen, der darin besteht, dass man die Betreiber der (gesellschafts)politisch so brisanten Plattformen zu ihren eigenen Aufpassern macht. Der Bock wird zum Gärtner. Das weckt natürlich sofort Zustimmung bis hin zum Sarkasmus, blendet aber die Tatsache aus, dass staatliche „Gatekeeper“ für die Meinungsfreiheit ein mindestens ebenso großes Risiko darstellen – siehe Russland und China….

In seinem Drang, alle Lebensbereiche abzudecken, macht Barthelmess sogar vor der „Achtsamkeit“, den „Helikoptereltern“ und der überbehüteten, übersensiblen jüngeren Generation nicht Halt. Dass dies ein problematisches Phänomen ist, sei nicht bestritten, und dass man einer vor Widerständen scheuenden Generation einen Spiegel vorhalten möchte, auch nicht, aber was das noch mit der digitalen Disruption zu tun hat, wird nicht ganz klar.

Zum Schluss wird Barthelmess dann jedoch noch einmal aussagestark und bringt die Dinge auf den Punkt. Eine Gesellschaft, die die gesamte ökonomische Wertschöpfung auf eine immer kleinere Elite – IT und KI – konzentriert und den Rest auch der industriellen Bevölkerung zu unterbezahlten Hilfskräften oder gar bedeutungslosen Almosenempfängern zu degradieren droht, riskiert den Aufstand der Depravierten. Einleuchtend zeigt Barthelmess dieses Phänomen an der Pegida-Bewegung in den östlichen Teilen Deutschlands, denen man nach der Wende ihre Lebensläufe und damit ihre Identität und Würde genommen hatte. Obwohl es (fast) allen materiell besser ging und geht als zu DDR-Zeiten, ist die Frustration mit Händen zu greifen. Allerdings erinnert Barthelmess´ düstere Prophezeiung des „Kippens der Mehrheit“ durch eine digitale Depravierung bis hin zum Aufstand an Karl Marx´ sich durch Verarmung der ausgebeuteten Arbeiterklasse automatisch einstellende Revolution. Das heißt jedoch nicht, dass man die sich öffnende Schere zwischen attraktiven und bedeutungslosen Arbeitsplätzen bestreiten oder gar belächeln sollte.

Barthelmess sieht auch die Gefahr, dass die monopolistische GAFA-Gruppe – Google, Apple, Facebook, Amazon – sich durch Verlagerung von Firmensitze jeglicher staatlichen Kontrolle entziehen und damit den klassischen Nationalstaat (und die EU!) buchstäblich entmachten. Er sieht letztlich nur ein „Weltordnung“ als demokratische Alternative, jedoch fehlt auch hier ansatzweise eine Idee, wie das mit Ländern wie China, Russland und leider auch den USA zu bewerkstelligen sein soll. Ein Wunsch ohne Weg dorthin bleibt aber ein frommer Wunsch!

Das wichtigste Kapitel ist denn auch das letzte. Im Gegensatz zu manch anderen Prognostikern unterbreitet Barthelmess ganz konkrete pragmatische und durchführbare Vorschläge, wie man zumindest für Deutschland und Europa die beschriebenen Folgen in den Griff bekommen könnte. Als erster fordert er ein auf Personen abgestelltes Mehrheitswahlrecht, weil die Parteiendemokratie aufgrund ihrer Undurchsichtigkeit und ihres inhärenten Hinterzimmerwesens keine Bindung mehr zu einer Gesellschaft aufbauen kann, die längst digital im Internet abstimmt, und wenn diese Abstimmung auch per „Hassrede“ erfolgt. Über diesen Vorschlag kann man sicher konstruktiv streiten, allerdings ist eine Umsetzung politisch in absehbarer Zeit wohl nicht realistisch. Als zweites fordert er den Zugang des Normalbürgers zu Wagniskapital, weil nur so eine materielle Beteiligung an und vor allem eine Identifizierung mit der neuen digitalen Welt möglich sei. Auch dies hört sich gut an, wird aber wegen des „Risiko“-Beigeschmacks linken Parteien und Gewerkschaften schwer zu vermitteln sein. Der dritte Vorschlag lautet auf einen zehnjährigen Zukunftsfonds in Höhe eines Jahreshaushalts für digitale Entwicklungen, um den Anschluss an China und die USA nicht zu verlieren. Barthelmess beschränkt diesen Vorschlag erst einmal auf Deutschland, weil er genau weiß, wie lange eine europäische Einigung darüber dauern würde (wer zahlt, wer bekommt?). Aber er fordert die Öffnung für andere EU-Länder vom ersten Tage an. Und das klingt vernünftig.

Vor allem mit dem letzten Vorschlag beweist Barthelmess einen Pragmatismus, der eine möglichst schnelle Initialzündung jeder perfekten und „gerechten“ Lösung für ganz Europa vorzieht. Einen Zukunftsfonds, der nach der Zukunft aufgesetzt wird, braucht niemand mehr – aber wie sagte schon (angeblich) Gorbatschov: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“.

Das Buch ist im Duden-Verlag erschienen, umfasst 255 Seiten und kostet 18 Euro.

Frank Raudszus

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