Brendan Simms: „Hitler – Eine globale Biographie“

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Die in den letzten siebzig Jahren erschienenen Hitler-Biographien und Analysen des Dritten Reiches füllen mittlerweile ganze Bücherwände, und dennoch erscheinen auch heute noch entsprechende Bücher, die ein völlig neues Licht auf diese Epoche werfen.

Die bisher überwiegende und unwidersprochene Sicht auf Hitler lief darauf hinaus, dass sein zentraler Kampf – neben der geradezu paranoiden Juden-Phobie – der Sowjetunion galt. Etliche öffentliche und private Tiraden über Stalin und den Bolschewismus schienen dies auch zu bestätigen. Nun hat jedoch der englische Historiker Brendan Simms im Rahmen einer Hitler-Biographie auf der Basis umfangreicher Recherchen die durchaus nachvollziehbare These aufgestellt, dass Hitlers Fokus in Wirklichkeit auf den angelsächsischen Mächten Großbritannien und Nordamerika lag. Dabei leugnet er durchaus nicht Hitlers Hass auf den Bolschewismus, sieht ihn jedoch eher als Begleiterscheinung seines durchaus ambivalenten Verhältnisses zu den angelsächsischen Mächten, die er laut Simms gleichermaßen bewunderte und fürchtete.

Den Ursprung dieser „Hassliebe“ verortet Simms im Ersten Weltkrieg, in dem Hitler als Gefreiter an der Westfront sowohl die Zähigkeit und Tapferkeit der englischen Soldaten als auch die materielle Übermacht des US-Militärs kennen und fürchten lernte. Diese durchaus traumatischen Kriegserlebnisse haben den Mittzwanziger Hitler für sein Leben geprägt. Die Judenfeindlichkeit wiederum entstand laut Simms ebenfalls erst nach dem Krieg und ist wohl als frustrationsgesteuerte Übernahme des gängigen Antisemitismus zu verstehen. In verschwörungstheoretischer Zuspitzung sah Hitler das „Weltjudentum“ hinter den Regierungen Großbritanniens und vor allem der USA die Fäden ziehen. In ebenso unlogischer aber emotional nachvollziehbarer Argumentation sah er dieses „Weltjudentum“ ebenfalls hinter dem Bolschewismus agieren. Aus der Tatsache der vernichtenden Niederlage gegen die Westmächte (militärisch) und gegen den Bolschewismus (November-Revolution) im Ersten Weltkrieg schloss er auf eine Verschwörung des „Weltjudentums“, das sogar so antagonistische Systeme wie den angelsächsischen Kapitalismus – bei ihm die „Plutokratie“ – und den russische Bolschewismus zum einzigen Zweck der Vernichtung Deutschlands zusammenführen konnte. Von dieser Paranoia ließ Hitler laut Simms bis zu seinem Lebensende nicht ab und propagierte seine Thesen sogar noch lautstark in den letzten Kriegstagen.

Das Buch selbst befasst sich kurz und summarisch mit Hitlers Jugend, geht näher auf seine „Erweckungserlebnisse“ im Ersten Weltkrieg ein und schildert dann minutiös Hitlers Werdegang bis zum bitteren Ende. Dabei legt Simms sehr viel Wert auf die Genealogie des Nationalsozialismus und vor allem Hitlers Werdegang als Politiker. Deutlich zeigt er, dass Hitler in vielen kritischen Situationen – Anfang 1933, Anschluss Österreich, Tschechei 1938 und Polen 1939 – wie ein Pokerspieler mit vollem Risiko spielte und dabei die Kunst des Bluffs perfektionierte. Auch im Krieg verfolgte er diese Strategie und behielt bei gewagten Operationen – Besetzung Norwegens, Frankreich-„Blitzkrieg“ und Russland-Feldzug bis Weihnachten 1941 – gegen eine oft sorgfältig abwägende Generalität Recht. Diese grundlegende „Hasardeur“-Einstellung brachte ihm dann bei Militärs und Zivilisten den Ruf des Genies – und deren Hörigkeit ein.

Simms belegt diese „Alles-oder-nichts“-Einstellung an vielen Einzelbeispielen (s. o.), ohne eine psychologische Deutung für diese Charaktereigenschaft zu geben. Das ist jedoch auch nicht die Aufgabe eines Historikers, weil er sich damit in das spekulative Feld der Psychologie begeben hätte. Für diese Biographie reicht die Tatsache, dass Hitler diese Eigenschaft aufwies.

Den Zweiten Weltkrieg selbst beschreibt Simms eher summarisch, obwohl er auf alle wichtigen Kriegsschauplätze und Ereignisse eingeht. Als Leser läuft man stets Gefahr, eine Beschreibung und Analyse des Dritten Reiches zu erwarten, und wundert sich, wenn mitten in einem Kapitel auf die Schilderung einer militärischen Operation plötzlich ein Schwenk zu Hitlers Judenhass erfolgt. Man muss sich dann vergegenwärtigen, dass es sich hier eben um eine Geschichte „ad personam“ handelt und nicht eine historische Gesamtschau. Macht man sich diese Perspektive konsequent zu eigen, leuchtet die „Engführung“ auf Hitlers Denken ein.

Laut Simms bewunderte Hitler neben den soldatischen Fähigkeiten der Engländer die US-Amerikaner für die Schaffung einer Großmacht aus dem „Nichts“ durch rücksichtslose Eroberung und Kolonisierung eines „leeren“ Landes. Dass dabei die „schwache“ Urbevölkerung unterging, betrachtete er als eine natürliche Folge des Darwinismus. Engländer und auch Nordamerikaner repräsentierten für Hitler die „nordische“ Rasse, die für ihn die höchste Qualität aufwies. Deutschland sei als Land inmitten eines Kontinents rassisch längst degeneriert und beherberge nur noch einen rassisch hochwertigen „Kern“ von maximal einem Viertel der Bevölkerung. Um den rassischen Durchschnitt des deutschen Volkes anzuheben und an den englischen und US-amerikanischen heranzuführen, erfordere es sowohl positive (Eugenik) als auch negative (Euthanasie) Maßnahmen. Vor allem brauche das deutsche Volk mehr Lebensraum, um wirtschaftlich und militärisch mit den USA gleichzuziehen. Das gehe jedoch nur mit mehr „Lebensraum“, den Hitler in dem slawischen, d.h. rassisch „minderwertigen“ Gebiet zu erobern gedachte. Schon früh stand für ihn fest, dass Deutschland sich den benötigten Raum und die Bodenschätze für eine vollständig autarke Lebensweise nur im Osten holen könne. Mit einer Flut von Belegen aus den unterschiedlichsten Quellen weist Simms überzeugend nach, dass Russlandfeldzug und alle damit zusammenhängenden Maßnahmen nur dem Ziel dienten, Deutschland auf das weltpolitische Niveau der USA zu heben. Die Sowjetunion betrachtete Hitler dabei eher als Steinbruch für seine zukünftigen weltpolitischen Bauten denn als ernst zu nehmenden Gegner.

Bei allen militärischen Aktionen auch und vor allem gegen die Westmächte verfolgte Hitler laut Simms stets das Ziel eines Verständigungsfriedens und einer anschließenden Aufteilung der Welt zusammen mit Großbritannien und den USA, wobei er den Rest der Welt als Verteilungsmasse verstand. Bis in die letzten Tage des Krieges hoffte und baute Hitler auf eine Entzweiung der Alliierten, weil er die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen „Herrenrasse“ als schlagendes und letztlich wirksames Argument sah. Dass die Alliierten diese „Selbstverständlichkeit“ nicht erkannten und alle offenen oder versteckten Angebote ausschlugen, konnte nur an der abgefeimten Strategie des überall agierenden „Weltjudentums“ liegen. Daher ergab sich die Notwendigkeit, die Juden ein für alle Mal zu eliminieren, geradezu zwangsläufig. Ohne die Macht der Juden würden die Westmächte endlich erkennen, wer ihre wirklichen Bundesgenossen waren.

Diese Denkstruktur Hitlers arbeitet Simms bis zum Schluss konsequent heraus. Ob seine These stimmt, lässt sich ein dreiviertel Jahrhundert nach Hitlers Tod nicht mit letzter Sicherheit feststellen, da alle Zeitzeugen nicht mehr leben und nur noch Dokumente zur Verfügung stehen, die natürlich selbst wiederum keine absolute Gewähr für dahinter liegende Intentionen und Beweggründe bieten. Die schiere Menge an solchen Quellen jedoch spricht für sich und bildet ein starkes Argument für Simms´ These. Die Diskussion darüber ist eröffnet, und die ersten Reaktionen sind skeptisch bis ablehnend. Es ist natürlich immer schwierig, bei einem so heiklen und brisanten Thema wie „Hitler“ eingefahrene Meinungen und Perspektiven zu revidieren, vor allem in Zeiten der übersteigerten „political correctness“, die eine neue Sicht auf Hitler leicht als Apologie denunzieren könnte. Zwar bietet sich keine von Simms´ Thesen dafür an, aber man weiß ja nie, wie interessierte Kreise diese Thesen umdeuten könnten. Aus diesem Blickwinkel kann man die Skepsis gegenüber diesem Buch sogar bis zu einem gewissen Grad verstehen.

Das Buch ist bei der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) erschienen, umfasst einschließlich gut zweihundert Seiten Quellennachweisen und Register 1050 Seiten und kostet 44 Euro.

Frank Raudszus

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