Susan Neiman: „Von den Deutschen lernen“

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Die Autorin dieses Buches ist zumindest mittelbar selbst von ihren beiden Kernthemen betroffen, da sie Jüdin und gleichzeitig Südstaatlerin der USA ist. Sie hat über dreißig Jahre lang in Deutschland gelebt, dort einen wichtigen Posten in der Erinnerungskultur des Holocaust bekleidet und die mühsame Aufarbeitung der Katastrophe des Dritten Reiches fast von Anfang miterlebt.

Neiman hat ihr Buch in drei Hauptteile unterteilt: im ersten schildert sie, wie Deutschland mit seiner düsteren Vergangenheit umgegangen ist. Im zweiten steht die Sklaverei in den Südstaaten und deren bis heute spürbaren Folgen im Mittelpunkt, und im dritten diskutiert sie die Frage von Wiedergutmachungen bzw. Reparationen.

Die deutsche Vergangenheit beschreibt sie nur insofern, wie es ihre Ausführungen zur Aufarbeitung erfordern. Sie setzt dabei das Wissen um den Holocaust voraus und geht auf historische Details dieses einzigartigen Menschheitsverbrechens nur kursorisch ein. Ihr Ziel ist nicht eine weitere Abrechnung mit Deutschland sondern einzig die Frage, wie eine Gesellschaft mit den Verbrechen der Vätergeneration umgeht. Dabei geht sie detailliert auf die geradezu hermetische „Schweigephase“ im Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre ein. Abgesehen von dem baldigen Ende der „Entnazifizierung“ seitens der Alliierten aufgrund der neuen geopolitischen Lage nach 1945 bestand auch in Westdeutschland keinerlei Bedarf nach Aufarbeitung. Neiman führt das einerseits auf eine tief sitzende Scham des überwiegenden Teil der „Mitläufer“ zurück, andererseits auf die Unbelehrbarkeit der führenden Nazis, die auch nach dem Krieg der Meinung waren, für die anderen Länder die unangenehme Aufgabe der „Judenfrage“ gelöst zu haben. Sie räumt auch mit dem – westdeutschen! -Wunschdenken auf, die Bundesrepublik habe die deutsche Vergangenheit wesentlich gründlicher und ehrlicher aufgearbeitet als die DDR. Trotz der wesentlich geringeren Bevölkerungsgröße der DDR sind dort in den Jahren nach dem Krieg wesentlich mehr Prozesse gegen Ex-Nazis mit zum Teil drastischen Urteilen geführt worden als in der BRD. Außerdem weist sie zu Recht darauf hin, dass die DDR gar nicht über so viele hochrangige Ex-Nazis verfügt habe, da diese zum größten Teil aus Angst vor der berechtigten Rache der Sowjets wegen der Säuberungen in der UdSSR in den Westen geflohen waren, wo sie dann aus oben genannten Gründen bald wieder in führende Stellungen kamen. Neiman leugnet dabei auch die Verantwortung der Westallierten nicht, die wegen des früh aufkeimenden Kalten Krieges auf eine mit hoher Wahrscheinlichkeit politisch destabilisierende Abrechnung mit den Alt-Nazis verzichteten. Dass die Sowjets aufgrund der strategischen Situation in Westeuropa und ihres totalitären Systems solche Rücksichten nicht zu nehmen brauchten, liegt auf der Hand.

Für die Zeit während und nach den Auschwitz-Prozessen hebt Neiman jedoch die Ernsthaftigkeit der Bundesrepublik bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen bis hin zum Holocaust-Denkmal in Berlin hervor. Sie sieht Deutschland als erstes Land der Geschichte, das die Verantwortung für die eigenen Verbrechen anerkannt und sogar als historisch einzigartig gebrandmarkt hat.

Der zweite Teil beschäftigt sich intensiv mit der Sklaverei und ihren Folgen in den USA. Auch hier geht Neiman auf die historischen Tatsachen der Sklaverei nur ein soweit für das Verständnis nötig. Dafür beschreibt sie jedoch detailiert die Rassendiskriminierung in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Anhand der rassistischen Gesetzgebung in den Südstaaten zeigt sie, dass sich die Bevölkerung der Südstaaten – am Beispiel ihrer Heimat Mississippi – nie von den rassistischen Vorurteilen aus der Sklavenzeit gelöst hat.

Dazu geht sie bis zum Bürgerkrieg zurück. Dieser endete zwar mit dem Sieg der Union und der Aufhebung des Sklaverei. Nach Abzug der Unionstruppen wurden jedoch die entsprechenden Gesetze vom Süden in erstaunlich kurzer Zeit auf verschiedene Weise ausgehebelt, so dass die Sklaverei de facto bis zum Ersten Weltkrieg weiterbestand. Erst die beiden Weltkriege brachten den Schwarzen die Möglichkeit, sich als Soldaten zu bewähren und Bürgerrechte zu erringen. Doch auch diese wurden im rassistischen Alltag nach dem Zweiten Weltkrieg in den Südstaaten schnell wieder kassiert. Anhand zweier Mordfälle noch vor Martin Luther Kings Zeit schildert Neiman die menschenverachtende Einstellung der Südstaaten – sowohl der Bürger als auch der Behörden – und ihre konsequente Ablehnung der rechtlichen Gleichstellung der Farbigen. Das Beispiel eines vierzehnjährigen Farbigen aus Chicago, der seine Verwandten in Mississippi besuchte und nur wegen seiner selbstbewussten Art auf grausame Weise umgebracht wurde, zeigt den tief sitzenden und irrationalen Hass der Südstaatler auf die Farbigen. Die Farce des Prozesses mit Freisprüchen für die eindeutig identifizierten Mörder war nur als Justizskandal zu bezeichnen, schaffte es aber nicht, USA- oder gar weltweite Empörung zu wecken. Ähnliches galt für den kaltblütigen Mord an drei Bürgerrechtlern – ein Schwarzer, ein Jude und ein „Weißer“ -, die Jahre später für die Rechte der Farbigen eintraten und ihnen bei der Registrierung zur Wahl helfen wollten.

Neimann beschäftigt sich mit diesen Fällen und dem Meinungsbild der Bevölkerung sehr detailliert, um zu zeigen, wie tief die Vorurteile und der Hass saßen und wie wenig staatliche Stellen willens waren, die Gleichberechtigung der Schwarzen in die Tat umzusetzen. Der Norden schaute meist weg, um eine zweite Spaltung oder gar bürgerkriegsähnliche Zustände zu vermeiden.

Neiman ist sich der Taqtsache wohl bewusst, dass man Verbrechen nicht gegeneinander aufrechnen sollte, und vor allem den Holocaust nicht mit dem Rassismus in den USA gleichsetzen darf. Das betont sie auch explizit des Öfteren, um sich diesen Vorwurf nicht einzuhandeln. Dafür geht sie jedoch auf viele Details des rassistischen Alltags in den Südstaaten ein, um die Ungerechtigkeit und die Grausamkeit zu zeigen. Den Umgang der Deutschen mit der eigenen Schuld beschreibt sie denn auch eher mit grundsätzlichen Erläuterungen zu Schuld und Verantwortung, als dass sie zu direkten Vergleichen greift. Durch die strukturelle Trennung der beiden Themen vermeidet sie einen impliziten Vergleich zusätzlich. Sie ist sich jedoch auch der Tatsache bewusst, dass sie als Jüdin und Südstaatlerin hier über mehr Freiheitsgrade verfügt als andere Autoren.

Im letzten Teil behandelt sie die Frage der materiellen Wiedergutmachung. Dabei zitiert sie noch einmal die Argumente der Adenauer-Regierung, deren Wiedergutmachung (keine „Reparationen“!) an Israel nicht den Tod von sechs Millionen Juden „wiedergutmachen“ sollten (und konnten), sondern dazu dienen sollten, Deutschland wieder in die Weltgemeinschaft aufzunehmen. Dann entlarvt sie alle einschlägigen Argumente gegen materielle Raparationen (zu lange her, Opfer längst tot, Erben nicht mehr identifizierbar, zu teuer) als Schutzbehauptungen, die einerseits auf die Furcht vor finanziellen Belastungen, andererseits auf den Unwillen zum Schuldeingeständnis zurückzuführen seien. Den zentralen Punkt von Reparationen sieht sie in eben diesem uneingeschränkten Schuldeingeständnis und einer enstprechenden Entschuldigung, die auch mit einem symbolischen Geldbetrag einhergehen könnten. Viel wichtiger wäre es, den Nachfahren der Sklaven durch bessere Bildung und entsprechende Sozialleistungen gleichwertige Lebensbedingungen zu bieten.

Neimans Buch ist keine intellektuelle Thesenarbeit aus historischer Forschung und philosophischen Ideen, sondern ein „hautnaher“ Erlebnisbericht zu den jeweiligen Themen. Dazu hat sie zwar umfangreiches Quellenmaterial gesichtet, das sich in dem entsprechenden Register niederschlägt, doch der Schwerpunkt liegt auf der wörtlichen Wiedergabe von Gesprächen mit einer Vielzahl von Beteiligten und Betroffenen bis hin zu fast unerträglichen Äußerungen eines rassistischen Südstaatlers, die sie jedoch – mit einem knappen Kommentar – zwecks Meinungsbildung der Leser so stehen lässt. Diese dialogische Art des Buches lässt die Lektüre oft etwas in die Breite gehen und gelegentlich etwas zerfasern, doch dafür entsteht ein breites Panorama vor allem der heutigen Südstaaten Mississippi, Alabama und anderen. Und dieses Panorama ist nur teilweise erheiternd oder tröstlich. Explizit weist Neiman auch auf Donald Trump und seinen Einfluss hin, und diese Verweise sind trotz ihrer Kürze und Sachlichkeit erschreckend.

Das Buch ist im Verlag Hanser Berlin erschienen, umfasst 575 Seiten und kostet 28 Euro.

Frank Raudszus

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