Eugen Ruge: „Metropol“

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Das Hotel „Metropol“ in Moskau war zur späten Zarenzeit ein nobler Repräsentationsbau und diente als Unterkunft der russischen und internationalen Oberschicht. Nach der Revolution war es eine Zeitlang Zentrale der Bolschewiken und wurde einerseits als Unterkunft für ausländische Gäste und später als vorläufige Bleibe für Kandidaten genutzt, die auf ihre Gerichtsprozesse warteten. Letzterer Zweck war den jeweiligen Insassen bei der Einquartierung nicht klar, wurden sie doch oftmals erst Wochen oder gar Monate nach ihrer Anreise verhaftet und vor Gericht gestellt.

Eugen Ruge ist selbst Abkömmling deutscher Kommunisten, die nach Hitlers Machtergreifung im Jahr 1933 Hals über Kopf in die Sowjetunion fliehen mussten. Dort bildeten sie zusammen mit Kommunisten aus anderen Ländern den Kern der „Kommunistischen Internationale“, für die sie bereits in ihren Heimatländern offene oder subversive Aktionen durchgeführt hatten.

Die Gruppe deutscher Kommunisten, die im Mittelpunkt von Eugen Ruges dokumentarischem Roman steht, bestand vornehmlich aus Männern und Frauen, die für den Nachrichtendienst der Komintern, genannt OMS, gearbeitet hatten. Im Jahr 1936 wurden sie nacheinander aus dem OMS entfernt und im Metropol einquartiert, ohne den Zweck dieser Aktion oder die Pläne für ihre weitere Verwendung zu kennen. Sie ahnten nicht, dass man sie nicht mehr benötigte, sie andererseits wegen ihres Wissens auch nicht einfach in ihre Heimatländer zurückschicken konnte. Letztlich lag dieser Aktion wohl auch hier die paranoide Angst Stalins vor Machtverlust und Verrat zugrunde, die für den Terror der Parteisäuberung dieser beiden Jahre ursächlich war.

Eugen Ruge schildert die Ereignisse konsequent aus der Sicht der betroffenen deutschen Kommunisten, die zum Teil mit ihrer ganzen Familie in die UdSSR geflohen waren. Die allgemeine Situation und die politischen Hintergründe werden nur in der Person des leitenden Richters dargestellt, der als Nichtjurist für die Unterzeichnung der Urteile eingesetzt worden war. Ihm ist die Gesamtsituation klar, vor allem, dass die Säuberungsaktionen von Stalin befohlen und die Geständnisse durchweg durch Folter erzwungen worden sind. Er ist sich auch der Unglaubwürdigkeit der jeweiligen Anschuldigungen bewusst, erfüllt aber seine Aufgabe nicht zuletzt aus Angst wie von ihm erwartet.

Die Bewohner des Metropols erfahren von den Säuberungen einerseits aus der Presse, andererseits durch das plötzliche Fehlen von Mitbewohnern. Da nur die „großen Namen“ in den Schauprozessen vorgeführt werden, bekommen sie die Unglaubwürdigkeit nicht in vollem Umfang mit. Zwar wundern sie sich, dass eben noch bejubelte Mitglieder der KPdSU plötzlich Volksfeinde sein sollen, weil sie angeblich Attentate auf Stalin geplant oder andere politische Verbrechen begangen haben sollen, doch ihr Glaube an die Partei und an Stalin ist so groß, dass sie an der Richtigkeit nicht zweifeln. Ähnlich ist es bei den ehemaligen Kollegen und Mitbewohnern, die über Nacht verschwinden. Man weiß, dass sie keine Verräter sind, aber man weiß auch nicht, was mit ihnen geschehen ist. Man ahnt es, will es aber nicht zu genau wissen.

Ruge zeigt, dass selbst die intelligenteren und erfahrenen Komintern-Mitglieder nur das glauben, was sie glauben wollen. Da sich jeder von ihnen – zu Recht! – für völlig schuldlos hält, sieht er auch keinen Grund, verhaftet zu werden. Die Verschwundenen werden sicher irgendeine Leiche im Keller gehabt haben, denn zu Unrecht wird man in der UdSSR nicht verhaftet. Der Glaube an die Partei und vor allem an Stalin ist unumstößlich. Eine der linientreuesten Frauen, selbst langjährige Vorzimmerdame der jeweiligen (und plötzlich verschwindenden) Komintern-Chefs, überlegt nach der Verhaftung ihres Chefs und alter, zuverlässiger Freunde und Parteigenossen, einen Brief an Stalin zu schreiben, indem sie ihn über die „Machenschaften“ des NKWD – der politischen Polizei – aufzuklären gedenkt. Ihre eigene Verhaftung (und spätere Hinrichtung) verhindert dieses Vorhaben.

Im Mittelpunkt steht eine eher unbedarfte Frau, die als Frau eines strammen und linientreuen Arbeiters und Kommunisten nach Moskau gekommen ist und dort in verschiedenen Funktionen als Übersetzerin und Redakteurin arbeitet. Als sie im Herbst 1937 ebenfalls entlassen wird, rechnet sie täglich mit ihrer Verhaftung, doch sie entkommt diesem Schicksal. Sie ist die Großmutter des Autors.

Ruge bringt die lähmende Angst, die nicht nur die deutschen Kommunisten, sondern die gesamte sowjetische Bevölkerung 1936 und 1937 erfasst hat, eindringlich zum Ausdruck. Die Tage vergehen lähmend langsam bei einsamen Spaziergängen, stillen Mittagessen und heimlichem Geflüster bei aufgedrehtem Radio, nachts liegen viele angezogen und schlaflos auf den Betten, weil sie stündlich mit der Verhaftung rechnen, die grundsätzlich in den frühen Morgenstunden erfolgt. Doch ihrem Glauben an den Kommunismus und die Partei samt Stalin tut das keinen Abbruch, ja, sie suchen in quälenden Selbstgesprächen so lange nach ihrer Schuld, bis sie sie in kleinen Nachlässigkeiten und geschönten Lebenslaufangaben schließlich auch finden und in vollem Umfang für sich annehmen. Auch ohne Folter unterschreiben sie in Gedanken bereits ihr Geständnis.

In einem ausführlichen Epilog beschreibt Ruge die familiären Hintergründe dieses Buches, das Elemente von Roman und Dokumentation auf spannende Weise verbindet. Bis zum Schluss leidet man mit den Betroffenen, die dem NKWD zum Opfer fallen, und hofft mit den Protagonisten, dass sie überleben. Dass die Geschichte für Ruges Großmutter glimpflich ausgeht, ist nicht als „Happy End“ zu verstehen, sondern beruht wohl auf Glück und Zufall. Bei seinen eingehenden Recherchen in sowjetischen Archiven hat Ruge dazu keine Erklärung gefunden, und seine Großmutter hat sich über diese Zeit auch nie geäußert.

Ulrich Noethen liest dieses Hörbuch mit einer Mischung aus hoher Eindringlichkeit und distanzierter Resignation, je nach Person, in die er schlüpft, und deren momentaner Befindlichkeit. Damit gelingt es ihm, die geradezu gespenstische Atmosphäre dieser existenziellen Grenzsituation wiederzugeben.

Das Hörbuch ist im Argon-Verlag erschienen, umfasst 3 mp3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 12 Stunden und 27 Minuten und kostet 29,95 Euro.

Frank Raudszus

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