Manfred Geier: „Die Liebe der Philosophen“

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Die Liebe ist seit eh und je ein Thema der Philosophie gewesen, doch haben die Geistesgrößen verschiedener Epochen dieses Thema vornehmlich aus der distanzierten Sicht des philosophischen Beobachters behandelt. Sei es Eros, Philia oder die rein geistige Agape: meist haben die Philosophen die jeweilige Form der Liebe als intellektuelles Phänomen beschrieben, das es zu verstehen und zu erklären galt.

Manfred Geier hat sich jetzt dieses Themas aus einer anderen Sicht angenommen. Er fragt sich, wie denn verschiedene große Philosophen selber mit der Liebe zurechtgekommen sind und wie sie sie in ihr eigenes Leben integriert haben. Als Philosophen haben sie natürlich die Liebe in irgendeiner Form nicht nur erlebt, sondern darüber auch reflektiert, vor allem, wenn die Liebe sich nicht in das eigene Leben und Wertesystem integrieren ließ. Fast möchte man nach der Lektüre dieses Buches die Behauptung aufstellen: je anspruchsvoller die Philosophie, desto unglücklicher die Liebe.

Geier geht bei seiner philosophischen Wanderung durch die Irrungen und Wirrungen der Liebe chronologisch vor und beginnt bei Sokrates. Man möchte meinen, das sei ja wohl die ungeeignetste „Testperson“, doch weit gefehlt: Geier räumt gleich mit mehreren Vorurteilen auf. Sokrates war zwar der Provokateur, der seine Zuhörer unerbittlich mit den Widersprüchen ihres Lebens konfrontierte, deshalb verachtete er aber noch lange nicht die Liebe. Soweit es die schmale Dokumentenlage hergibt, weist Geier nach, dass Sokrates nicht nur ein Anhänger der damals weit verbreiteten „Knabenliebe“ war, sondern dass er diese durchaus akzeptierte Form der Liebe auch in seinem Sinn zu nutzen wusste. Wegen seiner wohl unstrittigen Hässlichkeit liegt die Annahme nahe, dass er um die Liebe der jungen Männer buhlen musste, doch Geier zeigt, dass Sokrates sein intellektuelles Charisma dazu nutzte, dass die jungen Männer wegen seiner herausgehobenen Position und seines rebellischen Wesens um seine Liebe buhlten. Auch die sprichwörtliche Xanthippe erfährt bei ihm so etwas wie eine Ehrenrettung. Zwar erwähnt Sokrates des Öfteren seine schwierige häusliche Situation, aber Geier ist sich ziemlich sicher, das Xanthippe lediglich eine ungewohnt emanzipierte Frau war, die für ihre Interessen zu kämpfen wusste. Leider hat diese damals ungewohnte Emanzipation ihren Namen zum Symbol des „keifenden Weibes“ gemacht.

Mit einem großen Sprung wechselt Geier dann zu Aurelius Augustinus (354-430), dem Kirchenvater. Man kennt diesen hauptsächlich aus der theologischen Sicht, die sein Leben vor seiner Hinwendung zum Christentum meist verschämt unterschlägt. Aurelius war, zum großen Leid seiner sehr religiösen Mutter, ein sehr hedonistischer junger Mann, der jahrelang mit seiner Geliebten zusammenlebte und um keinen Preis auf die Annehmlichkeiten der Sexualität verzichten wollte. Zwar zeigte er durchaus Interesse an religiösen Fragen und war auch eine Zeitlang Anhänger der Manichäer, die alte Religionen mit den Ideen des Christentums verbanden, aber blieb seinem lustbetonten Leben treu. Der Umschwung kam dann ganz plötzlich, wenn auch innerlich lange vorbereitet, und Aurelius brach mit seinem gesamten vorigen Leben, schickte seine Geliebte weg, ging allen (erotischen) Versuchungen (aus Erfahrung!) konsequent aus dem Wege und wandelte sich zum frommen Asketen, von dem sich mancher spätere Papst eine Scheibe hätte abschneiden können.

Wieder ein weiter Sprung bis hin zu Jean-Jacques Rousseau, der an die natürliche Güte oder die gute Natur des Menschen glaubte. Nur die herrschende Gesellschaft, sprich: die Zivilisation, wie er sie kannte, verdarben seiner Meinung nach die Menschen. Seine allgemeine Liebe galt durchaus den Menschen, aber seine erotische Neigung galt einer einfachen Frau, die nicht seines intellektuellen Standes war. So lehnte er es auch Jahrzehnte ab, sie zu heiraten, obwohl sie ihm fünf Kinder gebar, die Rousseau alle unmittelbar nach der Geburt ins Waisenhaus gab. Manfred Geier verzichtet darauf, ihm aus dem Widerspruch zwischen seinen moralisch hoch zielenden Schriften und seinem Verhalten als Vater einen wohlfeilen Strick zu drehen, doch es mutet schon ein wenig seltsam an, dass ein Philosoph mit so hohen Anschauungen von den (gleichen) Rechten der Menschen und mit derart hehren Erziehungsprinzipien („Émile“) seine eigenen Kinder als Findelkinder aufwachsen ließ. Seine eigene Stellung zu Frauen und der Liebe war auch durch den frühen Tod der Mutter geprägt, der ihn ein Leben lang als Liebesmangel plagte. Die letzte Pointe bestand darin, dass der junge Mann, der Rousseaus Frau zu ihm nach England begleiten sollte, ihr Liebhaber war, was Rousseau nie erfuhr.

Im nächsten Kapitel stehen die erotisch konträren Zeitgenossen Marquis de Sade und Immanuel Kant im MIttelpunkt. Machte der eine seinen wohl überentwickelten Sexualtrieb zur Basis seiner „philosophischen“ Weltanschauung, verordnete sich der andere zwecks intellektueller Konzentration auf die Vernunft und ihre vielfältigen Aspekte völlige Enthaltsamkeit. Anschaulich und auch mit deutlichen Worten („geil“) lässt Geier das Leben, Lieben und Schreiben des Marquis Revue passieren und kann sogar einiges Mitgefühl für seinen Jahrzehnte währenden Gefängnisaufenthalt aufbringen. Obwohl de Sade vielfältige Angriffsflächen nicht nur für konservative oder gar gläubige Geister bietet, verzichtet Geier auf jegliche vordergründige Ironie oder gar Polemik. Er war nicht nur ein Kind seiner Zeit – der adligen Libertinage – sondern in gewisser Weise auch ein Opfer seiner Triebe. Geier zeigt dabei auch, dass de Sades literarische Arbeiten trotz ihres extrem libertinären Inhalts durchaus über einiges Format verfügen. Auf dieses Lob kann man bei Kant verzichten, doch sein bewusst gewählter asexueller Lebenswandel ist die Abhandlung der Gründe dafür schon wert.

In enger zeitlicher Anbindung kommen die Brüder Humbold zu Wort. Als Eckpfeiler deutschen Bildungsguts gefeiert, hat sie das konservative bis reaktionäre Bürgertum des 19. Jahrhunderts quasi als geschlechtslose Geistesgrößen beschrieben. Alexander war der begeisterte Naturforscher, und Wilhelm der verantwortungsvolle Regierungsbeamte. Geier räumt mit dieser „Desexualisierung“ der beiden – ja: Philosophen? – auf und redet Klartext. Wilhelm war ein Schwerenöter und selbst seiner lebenslangen Ehefrau nicht treu, wobei er jedoch unverbrüchlich zu ihr stand. Gleichzeitig machte er sich schon früh über die „Mannesbekanntschaften“ seines Bruders lustig. Dieser fühlte sich bei gleichaltrigen Männern viel wohler als bei Frauen, wobei man die Liebesschwüre wohl als typische Äußerungsform der Romantik deuten muss, ohne dahinter gleich Homosexualität zu wittern. Dass Alexander homophil war, ist heute wohl unstrittig, wie weit diese Homophilie aber ging, kann niemand mit Sicherheit sagen. Geier verzichtet daher auf jegliche Spekulationen zur Sexualität, betont aber, dass gerade sein Verzicht auf eine heterosexuelle Bindung es ihm erlaubte, seinen Forschungsaktivitäten in vollem Umfang nachzugehen.

Der Däne Soren Kierkegaard (1813-1855) war hinsichtlich der Liebe ein ganz besonderer Fall. Die erste Frau seines Vaters starb früh ohne Kinder. Daraufhin heiratete der streng gläubige Vater die Dienstmagd und hatte mit ihr sieben Kinder. Als junger Mann zerbrach Kierkegaard fast an der Erkenntnis, dass zwischen der Hochzeit seines Vaters und seiner Mutter sowie der Geburt des ersten Kindes (Soren war der letzte) nur vier Monate vergangen waren. Das war für ihn eine nicht wieder gut zu machende Sünde, die sich natürlich – wie die Erbsünde – auf die Kinder übertrug. Zu Frauen zog es ihn durchaus hin, aber er sah sich innerlich aus den obigen Gründen als Bastard und musste sich seine inneren Leiden von der Seele schreiben, so etwa in seinem ersten Buch „Entweder – Oder„, in dem er einen sinnlichen Ästheten gegen einen asketischen Ethiker antreten lässt. Geier zeigt, dass dieses Buch genau Kierkegaards eigene Situation quasi autobiographisch widerspiegelt. Natürlich „gewinnt“ am Ende der biedere Ethiker, der sich der Verantwortung und dem Glauben stellt. Ebenso verzichtet Kierkegaard auf die Frau, die er lange und schließlich erfolgreich umworben hat, und lässt zu deren Verzweiflung die Verlobung wieder.

Bei den beiden Zeitgenossen Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger hat sich der Autor aus seinem eigenen Werk bedient. Er fasst dabei sein Buch „Wittgenstein und Heidegger – Die letzten Philosophen“ in zwei Kapitel über jeden dieser beiden Protagonisten zusammen. Wittgenstein, der aus begütertem Wiener Großbürgertum stammte, verschenkte sein Erbe an die Geschwister und verdingte sich in einfachen Berufen, weil er keinen Vorteil haben wollte. Im Erotischen sah er stets eine „Schweinerei“, suchte zeitlebens die reine, unkörperliche Liebe, sah sich aber stets mit seinem eigenen „schweinischen“ Trieb konfrontiert. Auch er suchte schließlich den Kontakt zu Männern, wobei auch hier unklar bleibt (und bleiben wird), ob es dabei jemals zu sexuellen Handlungen kam oder ob er auf diesem Wege so etwas wie „Liebe“ gerade ohne körperliche Triebe erleben wollte. Während er selbst sich in einer einsamen norwegischen Hütte wie ein Eremit verbarg, empfahl er einem seiner engsten Freunde (und vielleicht Geliebten) in Cambridge, der in Mathematik und Philosophie hochbegabt war, den einfachen Beruf eines Schraubendrehers, um den quälenden Gedankengängen aus dem Weg zu gehen. Dieser fragwürdige „Freundesdienst“, der bestimmt gut gemeint war, verdeutlicht die innere Zerrissenheit Wittgensteins, die ihn zu einer normalen heterosexuellen Beziehung unfähig machte. Stattdessen wurde er zu einem der wichtigsten Philosophen des 20.Jahrhunderts.

Heidegger dagegen lebte mit sich und seinen hoch fliegenden philosophischen Gedankengängen in Einklang. Er war für weibliche Reize durchaus empfänglich und ging schnell erotische Beziehungen ein. Hannah Ahrend wurde schon als Achtzehnjährige die Geliebte des weit über dreißig Jahre alten Universitätsphilosophen, und die Verbindung blieb bis zu ihrem Lebensende bestehen. Heidegger heiratete zwar früh seine Elfriede und blieb bis zum Tode bei ihr, hatte aber laufend Affären, vor allem mit Studentinnen. Jedes Mal stilisierte er die Liebe in seinen Briefen zu einem einzigartigen geistigen und seelischen Ereignis hoch, dass nur wenigen Menschen – höherer Art! – gegeben sei, nur um kurz darauf eine neue Liebe zu finden. Seine Berühmtheit und seine suggestiv-allumfassende Art taten ein Übriges bei den jungen Frauen. Seine Philosophie der Einzigartigkeit und des Aufschwingens zu einem authentischen „Sein“ spiegeln sich nicht nur in diesen vermeintlich singulären Liebesbeziehungen, sondern auch in seiner geistig-politischen Nähe zum Nationalsozialismus.

Bleibt zum Schluss Michel Foucault, der homosexuelle Franzose, der mit seinen Büchern über staatliche Institutionen und Machtstrukturen wie Gefängnisse und Psychiatrieeinrichtungen berühmt wurde. Doch er erlebte in den siebziger Jahren einen existenziellen Bruch, als er das hedonistische San Francisco kennenlernte. Der bis dahin seine Homosexualität eher verdruckst auslebende französische Intellektuelle erlebte plötzlich eine ungeahnte Freiheit und wurde von da an zu einem Verteidiger der unbegrenzten körperlichen Lüste. Entsprechend änderte sich sein kühl sezierender analytischer Stil zu einem bekenntnishaften „Freistil“, der bis zu seinem Tod durch Aids anhielt.

Dieses Buch rückt die Philosophen in ein anderes Licht, als die Leser es von ihnen gewohnt sind. Die Auswahl scheint etwas zufällig, und sicher hätte es es auch andere Kandidaten gegeben, über die man hätte schreiben können, etwa Hegel. Die großen zeitlichen Lücken lassen außerdem den Wunsch nach einer Füllung entstehen, schließlich gab es noch Mittelalter, Renaissance und Barock mit entsprechenden philosophischen Größen. Doch nehmen wir das Buch so, wie es ist, und lassen die Erkenntnisse des Autors in uns nachwirken.

Das Buch ist im Rowohlt-Verlag erschienen, umfasst 351 Seiten und kostet 24 Euro.

Frank Raudszus

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