Judith Hermann: „Daheim“

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„Daheim“ nennt Judith Hermann ihren neuen Roman und schlägt mit diesem Titel ihr zentrales Thema an: Was sind das für Menschen, die sich irgendwo daheim fühlen und Wurzeln schlagen können? Was treibt dagegen andere, nach neuen Orten aufzubrechen ohne das Bestreben, dort Wurzeln zu schlagen? Die einen suchen die Stabilität des Bekannten, nehmen dafür Einengung und Stagnation in Kauf. Die anderen brauchen die Freiheit, sich ins Unbekannte zu wagen, ohne bestimmte Ziele, mit allem Risiko wie beim Schwimmen in der Weite des Meeres. Damit sind die wichtigsten Eckpunkte des Romans genannt.

Die Ich-Erzählerin ist 47 Jahre alt, hat sich aus allen Bindungen gelöst, um irgendwo an der Nordsee in ein baufälliges Haus hinter dem Deich zu ziehen und in der Kneipe ihres Bruder als Serviererin zu arbeiten. Der Bruder ist hier „hängen geblieben“, Wurzeln hat er jedoch nicht. Dennoch ist er nicht frei, er hat sich als fast 60-jähriger in die Abhängigkeit der extrem gestörten 20-jährigen Nike begeben. Sie wurde als Kind von ihrer geistesgestörten Mutter immer wieder in eine Kiste eingesperrt, was sie unfähig zu sozialen Beziehungen gemacht hat. Diese Kiste schleppt sie ihr Leben lang mit sich herum.

Die „Kiste“ ist in dem Roman ein durchgängiges Motiv für Unfreiheit. Die Erzählerin wird durch eine kistenartige Marderfalle, die sie in ihrem Haus aufstellt, an eine Episode in ihrem Leben als 20-jährige erinnert. Sie hatte das Angebot, mit einem Zauberer als „zersägte Jungfrau in der Kiste“ auf Tour nach Singapur zu gehen und damit der eintönigen Arbeit in einer Zigarettenfabrik zu entkommen. Sie hat dieses Angebot ausgeschlagen, ist geblieben, hat geheiratet, ein Kind bekommen. Geblieben ist in ihrem Leben die Ambivalenz von Freiheitsstreben einerseits und dem Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit andererseits.

In ihrer neuen Dorfumgebung trifft sie auf Menschen, die in dieser Welt verwurzelt sind. Der Schweinebauer Arild hat wie seine Eltern das Dorf nie verlassen, hat nie das Bedürfnis nach einer andern Welt gehabt. Seine Schwester Mimi, eine Künstlerin, ist zurückgekehrt in diesen Hafen ihrer Kindheit, wo sie sich daheim fühlt. Dagegen ist Nike, die  Geliebte des Bruders, das Exotische und Fremde in dieser Dorfwelt. Sie ist die „Nixe“, die sich keiner Welt zuzuordnen lässt, die ohne jede Wurzeln und Bodenhaftung in ihrer eigenen Welt lebt und schließlich auf geheimnisvolle Weise umkommt. „Daheim“ ist sie nirgends gewesen.

Die Erzählerin hingegen weiß nicht, ob sie bleiben wird und Wurzeln schlagen wird oder ob  sie wieder aufbrechen wird. Die Freiheit, die sie sucht, ist trügerisch, zu stark ist die Sehnsucht nach dem Mann, den sie verlassen hat, und nach der Tochter, die ihrerseits die Eltern verlassen hat, um sich auf den Weg zu machen in die Welt, insbesondere auf die Weite des Meeres.

Die neue Umgebung mit den Menschen im Dorf führt sie immer wieder zurück in die Erinnerung an vergangene Lebenssituationen. Sie will verstehen, was war, welche Entscheidungen sie wann warum getroffen hat. Erinnerung prägte das Leben mit ihrem Mann, der alles sammelt und archiviert, was ihm begegnet. Er speichert alle Erinnerungen, kann sogar ihre eigenen Erinnerungen korrigieren. Die Tochter dagegen zweifelt den Wahrheitsgehalt von Erinnerungen an, sie seien höchstens Spuren gelebten Lebens. Es gelte, in der Gegenwart zu leben.

Die Erzählerin lebt zwischen diesen Polen. Als Reaktion auf das übervolle Haus ihrer Ehe ist das Haus am Polder fast leer. Der Aufbruch ist der Versuch der Lösung, der aber nicht gelingt,  im Gegensatz zum Aufbruch der Tochter. Allein-Sein bringt Angst mit sich, Angst im tiefen Wasser zu schwimmen. Sie weiß, dass sie diese Angst erst überwinden kann, wenn sie sich auch innerlich von Mann und Tochter lösen kann. Allein-Sein mag zwar ein Ziel sein, aber das Bedürfnis nach Zugehörigkeit erweist sich als stärker.  Ob es ausreicht, um endlich Wurzeln zu schlagen und sich daheim zu fühlen, bleibt offen.

Judith Hermann erzählt diese Geschichte mit der ihr eigenen Sprödigkeit in der Sprache. Im Wesentlichen reiht sie Hauptsätze aneinander, Nebensätze gibt es nur, wo es unvermeidbar ist. Das gibt dem Erzählton etwas Lakonisches, Emotionsloses, was dem äußeren Gleichmut der Erzählerin entspricht. Nie gibt es starke Gefühlsausbrüche, sie scheint alles hinzunehmen, wie es ihr geschieht. Tatsächlich verbirgt sich dahinter wohl eher die Angst vor Enttäuschung und Liebesverlust. Das kann einem nicht geschehen, wenn man gar nicht erst große Gefühle entwickelt. Wie sie sich scheinbar sachlich von ihrem Mann getrennt hat, so geht sie auch eine neue Beziehung äußerlich routiniert und pragmatisch ein. Was tatsächlich in ihr vorgeht, gesteht sie sich selbst nur punktuell ein.

Judith Hermann ist ein Roman gelungen, der vertieftes Lesen erfordert, will man alle Motive und inneren Bezüge erkennen und verstehen. Ein Roman, der die Einsamkeit des modernen Menschen thematisiert und dessen höchst unterschiedlichen Versuche, dieser Einsamkeit zu entfliehen, dennoch aber die Freiheit nicht zu verlieren. Freiheit wird dabei zu einer Schimäre, die sich als Illusion erweist. Die Menschen brauchen Bindungen, so schwierig es sein mag, sie wirklich einzugehen.

Ein unbedingt lesenswerter Roman.

Das Buch ist im S. Fischer Verlag erschienen, hat  185 Seiten und kostet 21 Euro.

Elke Trost

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