Sasha Filipenko: „Der ehemalige Sohn“

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Wie ein Leben in Minsk/Belarus aussehen könnte, das beschreibt Sasha Filipenko in eindringlichen Worten in seinem Roman „Der ehemalige Sohn“. Franzisk wächst hauptsächlich bei seiner Großmutter aus. Sie möchte, dass er fleißig Cello übt, damit er an der Musikschule weiter kommt, aber Franzisk spielt lieber mit seinen Freunden Fußball. Doch die nächste Prüfung steht bevor, und wer an der Schule bleiben will, muss Etappe für Etappe bestehen. Das ist mühsam und für einen pubertierenden Jungen in den seltensten Fällen ein Ziel. So auch für Franzisk, der sich drückt, wo er kann, und seine Großmutter immer wieder austrickst.

Die Bildungsbeauftragte lädt eines Tages einen Kriegsveteran an die Schule ein. Der schildert anschaulich, wie der Krieg wirklich war, nämlich gar nicht heroisch sondern nur elend. Die Schüler lauschen begeistert, denn eine so offene und kritische Stimme hat man in Belarus bisher nicht gehört. Die Bildungsbeauftragte dagegen ist höchst nervös, hatte sie doch eine Lobeshymne auf das eigene Land erwartet.

Die Amtssprache in Belarus ist Russisch, und das Russische setzt sich immer mehr durch. Bei den Gesprächen der Jugendlichen schwingt unterschwellig die Unzufriedenheit mit dem politischen System mit. Amüsant zu lesen ist die Beschreibung einer Lehrerkonferenz. Hier wird entschieden, wer von den jungen Leuten weiter kommt. Aber hier geht es nicht um die Besten, sondern um Beziehungen, Bestechung und andere Varianten eines korrupten Systems.

Eines Tages ziehen die Jungs los zu einem Konzert mit Freibier. Franzisk hasst diese großen Feste eigentlich, da sie üblicherweise in einer Schlägerei enden. Schon Sneakers und ein teurer Rucksack können Gewalt provozieren. Die Zahl der Straßenschlachten ist in der letzten Zeit stark angestiegen, und dabei teilt sich das Land immer mehr in staatstreue Bürger und „Verräter“ auf. Oft enden die Feste in einem Hexensabbat, bei dem die Kader der Genossen zeigen können, wer hier das Sagen hat.

Aufgrund eines Gewitters kommt es bei dem Konzert zu einer Massenpanik. Filipenko schildert in diesem Bericht auf eindringliche Weise, was geschieht, wenn Menschenmassen nicht mehr ausweichen können. Auch Franzisk kann nicht mehr entkommen, wird von der Menge aufgehoben und weiter getragen. Viele junge Menschen werden totgetrampelt oder zerquetscht. Auch Franzisk wird immer mehr zusammengedrückt……

Franzisk überlebt zwar, fällt aber ins Koma. Zehn Jahre lang sitzt die Großmutter an seinem Bett und hofft auf sein Erwachen. Die Ärzte haben ihn schnell aufgegeben, bezeichnen ihn nur noch als „Gemüse“. Doch wie durch ein Wunder wacht Franzisk nach zehn Jahren auf – kurz vor dem Tod seiner Großmutter.

Filipenko beschreibt in diesem Roman den Stillstand, die Sturheit und die Korruption des autoritären Systems in Belarus. Das zehnjährige Koma des Protagonisten lässt sich als Metapher der Zustände in Belarus deuten, denn in diesem Zeitabschnitt hat sich im Minsk und im Land eigentlich nichts bewegt. Wie Menschen um ihr Leben und junge Leute um ihre Zukunft betrogen werden, das geht unter die Haut. So gibt es auch für Franzisk keine Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben, und der Roman endet als Tragödie.

Das Buch ist im Diogenes-Verlag erschienen, umfasst 320 Seiten und kostet 23 Euro.

Barbara Raudszus

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