Science Fiction, vor allem mit Weltraum-Bezug, scheint derzeit Konjunktur zu haben. Nach „Interstellar“ und „Laika und Margarita“ in Darmstadt läuft nun im Schauspiel Frankfurt Stanislaw Lems „Solaris„, das wiederum in Darmstadt vor sechs Jahren lief. Diese Stoffe scheinen also im Rhein-Main-Dreieck zu kreisen. Bei „Solaris“ kommt jedoch der durchaus interessante Umstand hinzu, dass Anabel Möbius wiederum die Rolle der Harey übernommen hat, die sie damals schon in Darmstadt gespielt hat. Heute nur ganz anders.

Foto: Thomas Aurin
Regisseur Christian Friedel geht das Stück aus einer körpersprachlichen Perspektive an, die streckenweise fast schon an Tanztheater erinnert. Zu Beginn lässt er den gealterten Kris Kelvin (Michael Schütz) sich an die Geschichte auf dem fernen Planeten erinnern, wobei ihn wiederum die damaligen Figuren als pantomimische und stimmliche Begleiter umgeben. Harte Beleuchtungs- und Akustikschnitte trennen die Szenen der Erinnerung voneinander ab. Dann wird in einer solchen Rückblende er selbst in jüngeren Jahren (Miguel Klein Medina) an einem Seil metaphorisch auf die ferne Raumstation beim Planeten Solaris gehievt.
Dort beginnt das bekannte Spiel der totalen Verwirrungen um die wiederaufgetauchten Toten. Schnell erlebt auch Kris das seltsame Spiel, als plötzlich seine durch Freitod verstorbene Freundin Harey als scheinbar lebendes, unverwechselbares Subjekt auftritt. Diese Situation inszeniert Regisseur Friedel jedoch in einem eher metaphorischen Sinne, indem er sowohl Kris als auch Harey vervielfältigt. Außer den beiden bereits genannten Männern treten noch Anna Kubin und Lotte Schubert in dieser Rolle auf. Friedel zeigt damit die Vielschichtigkeit und Ambivalenz des Subjektbegriffs in der Realität, ohne jetzt gleich die Schizophrenie bemühen zu müssen. Denn die verschiedenen Interpreten dieser Figur treten nicht alternativ, sprich: disjunkt auf, sondern meist nebeneinander, wobei sich auch Handlungselemente überschneiden oder parallel laufen können. Damit ergibt sich fast logisch auch die Verdreifachung der virtuellen Harey (Christoph Bornmüller, Torsten Flassig und Annie Nowak), so dass sich in gewissem Sinne drei Paare mit ihrer jeweiligen Problematik der einseitig erkannten Virtualität ergeben. Dabei erleben sich die von Solaris´ Ozean erzeugten Wiedergänger als tragische, weil einsame und ohne Lebensgeschichte existierende Wesen. Zwar verstehen sie sich jeweils als Kris´ ehemalige Geliebte Harey, doch besteht ihre innere Existenz ausschließlich aus Kris´ schuldbeladenen Gedanken. Sie können daher auch mit der Absage ihres jeweiligen Gegenüber nicht umgehen und irren verzweifelt zwischen ihrem Partner und dem Nichts umher.
Die Regie inszeniert diese Szenen wie ein Tanztheater, indem die Spannungen körpersprachlich ausgedrückt werden. Umarmungen wechseln sich mit Aggressionen und Zusammenbrüchen ab, und die abgründige Live-Musik von Max Mahlert liefert dazu die akustische Untermalung.
Am Schluss tritt dann auch die Wissenschaftlerin Gibarian auf, Dritte Im Bunde der Stationsbesatzung und, wie bereits erwähnt, durch Selbstmord gestorben. Die Hareys sind ihre Klone aus der Sicht des Besuchers Kris, während Gibarian, gespielt von Anabel Möbius, offensichtlich parallel dazu von dem lebenden Meer wiedererweckt wurde. Wie eine weibliche Figur aus der antiken Tragödie, etwa Elektra, beklagt sie ihr Leid und das der – weiblichen? – Welt an der Rampe unter verzweifelt ekstatischen Krämpfen. Diese ausgedehnte Szene expressionistischen Ausmaßes bildet einen dramaturgischen Gegenpol zu den dreifachen Auseinandersetzungen der Hareys mit ihrem jeweiligen Kris, die ja jeweils zwischen einem rationalen und einem abhängigen irrationalen Partner ablaufen. Anabel Möbius fasst all diese Antagonismen in einem einzigen, langgezogenen Aufschrei zusammen und setzt damit den Schwerpunkt dieser Inszenierung.
Eine besondere Rolle spielt die Beleuchtung, die nicht nur – auf naive-plakative Weise – das Exotische eines fernen Himmelskörpers, sondern vor allem die alle menschlich-geistige Grenzen sprengende Kraft dieser fremden Welt widerspiegelt. Diese Welt negiert die Einzigartigkeit des irdischen Subjekts „Mensch“, indem es beliebige Kopien beliebiger Subjekte aus seinen Gedanken erzeugen kann. Durch die Kopierbarkeit verliert der Mensch seine selbstgesetzte Einzigartigkeit und damit seine vermeintliche Überlegenheit. Man sieht hinter dieser Interpretation die wachsende Bedeutung – und Bedrohung – der KI durchschimmern, ja, fast könnte man den Solaris-Ozean als KI-Metapher interpretieren. All diese existenziellen Assoziationen setzt die Beleuchtung von Marcel Heyde in unterschiedliche Lichteffekte um, von wabernden Wellen auf einem großen Gaze-Vorhang über leuchtröhren-Konstrukte – Darstellung der Weltraumtechnologie – bis hin zu weit ausgreifenden Laserstrahlen mit wandernden Wolken, blitzenden Punkten und durch den Zuschauerraum schießenden Strahlen. Glücklicherweise setzt die Regie dieses Bühnenmittel nur in bestimmten Szenarien ein und erliegt nicht der Versuchung eines permanenten Feuerwerks. Das Stück stellt so schon hohe Anforderungen an das Verständnis, und da ist es ratsam, effektheischende Mittel sparsam einzusetzen.
Mit dieser Inszenierung ist dem Schauspiel Frankfurt eine so kompakte wie glaubwürdige Deutung des durchaus schon angejahrten Romans von Stanislaw Lem gelungen. Dass diese SF-Geschichte nach heutigen astrophysikalischen Erkenntnissen für die Menschen schlicht unmöglich ist, kann man dabei getrost vergessen.
Das Publikum bedankte sich bei dem Ensemble mit kräftigem, lang anhaltendem Beifall.
Frank Raudszus
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