Der norwegische Schriftsteller Tarjej Vesaas (*1897 – † 1970) ist bei uns offenbar nur Eingeweihten bekannt. In Norwegen gilt er jedoch als einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der mehrfach für den Literaturnobelpreis nominiert war. Der Guggolz Verlag hat nun einige seiner bekanntesten Romane in neuer Übersetzung auf Deutsch herausgebracht: „Das Eisschloss“ 2019 (auf Norwegisch 1963 erschienen), „Die Vögel“ 2020 (auf Norwegisch1957 erschienen) und jetzt 2025 „Frühlingsnacht“ (auf Norwegisch 1954 erschienen). Es ist das große Verdienst des Guggolz Verlags, uns deutschen Leserinnen und Lesern diesen feinfühligen und eindringlichen Roman einer Coming-of Age- Geschichte zugänglich zu machen.
Vesaas versetzt uns unmittelbar in die Welt des 14-jährigen Hallstein im ländlichen Norwegen der 50er Jahre. Die Eltern haben die Großstadt verlassen, um ihre beiden Kinder in der Abgeschiedenheit eines „alten gelben Hauses“ in der Nähe eines Dorfes aufwachsen zu lassen.
Der Roman beginnt medias in res: „Das ganze Haus fühlte sich anders an“, lautet der erste Satz. Wir sind sofort in Hallsteins Blick auf die Welt versetzt. Hallstein genießt an diesem Frühlingsabend eine besondere Freiheit. Die Eltern sind für zwei Tage in die Stadt gefahren und haben Hallstein und seine 18-jährige Schwester Sissel alleine im Haus gelassen. Das ist für Hallstein eine ganz neue Erfahrung. Endlich einmal alles tun können, was er will, und dabei zu wissen, dass er viel mehr kann und weiß, als die Erwachsenen denken.
Hallstein weiß noch gar nicht so recht, was er mit der neuen Freiheit anfangen soll. Aber seine Schwester nutzt die Chance schon, sie hat Besuch von dem ebenfalls 18-jährigen Tore. Ohne es wirklich zu wollen, befindet sich Hallstein plötzlich in der Rolle des heimlichen Beobachters. Aber er versteht das Spiel des Verführens und Wegstoßens nicht, das Sissel mit Tore spielt. Die Widersprüchlichkeit im Verhalten seiner Schwester verwirrt ihn.
Tarjei Vesaas fängt in dieser und den folgenden Szenen die Ambivalenzen des 14-jährigen ein, der zwischen der magischen Kinderwelt und der rationalen Erwachsenenwelt steht. So ein magisches Erleben bewirkt etwa das grüne magische Auge des Radios, das in Tores Rücken leuchtet und die Szene verzaubert. Wer das als Kind selbst noch gekannt hat, weiß, warum es Hallstein so fasziniert.
Hallsteins Zufluchtsort aus dieser Welt des Uneindeutigen ist die Natur, seine Wiese. Aber auch hier treffen diese Welten aufeinander. Da gibt es die erfundene Gudrun, die aus dem Scheunenfenster blickt, sobald er sie ruft, um mit ihm Zwiesprache zu halten. Auf der Wiese ist es die Schlange, ein Symbol der Ambivalenz, der Unergründlichkeit eines unbekannten Bereichs, der ihn neugierig macht und gleichzeitig erschreckt. Sie ist verborgen, aber er glaubt zu wissen, wo sie steckt. Die sexuelle Implikation ist nicht zu übersehen. Die Engelwurz, die Hallstein besonders liebt, steht als Phallussymbol für das „überschäumende“ Leben der Frühsommerwiese, die ihn mit verwirrenden Düften umgibt. Alle seine Sinne sind hier angesprochen, alles um ihn herum erscheint ihm verzaubert, er fühlt sich ganz Teil der ihn umgebenden Natur. Der Leserin drängt sich der Gedanke an Werther auf. Hallstein sehnt sich offenbar danach, hier in der magischen Kinderwelt verharren zu dürfen. Er wünscht sich, dass auch seine Schwester daran teilhat. Sie aber ist bereits jenseits in der rationalen, wissenden Erwachsenenwelt und entzaubert seine magische Wiese. Der einsetzende Regen treibt beide zurück in die Ordnung des Hauses.
Auf dieses unerhörte Einstiegskapitel folgt die völlige Destruktion der häuslichen Geborgenheit. In strömendem Regen, bei Donner und Blitz, begehrt eine mit ihrem Auto gestrandete Familie Einlass: eine hochschwangere Frau und ihr Mann, dessen alter Vater mit seiner sehr jungen Frau und seiner 14-jährigen Tochter.
Hallstein erlebt eine Nacht, die ihn endgültig aus der Kinderwelt verstoßen wird. Diese fünf Menschen nisten sich in dem Haus ein und übernehmen das Kommando. Sissel versucht sich in der Rolle der fürsorglichen Hausfrau, um die Ordnung einigermaßen aufrecht zu erhalten, während Hallstein der staunende Beobachter für ihn unverständlicher Ereignisse ist.
Unter diesen fünf Menschen bestehen Spannungen, die für Hallstein rätselhaft bleiben, denn nichts wird richtig ausgesprochen, nur eben angedeutet. In einem undurchdringlichen Durcheinander von gegenseitigen Vorwürfen und Schuldzuweisungen mit wechselnden Parteibildungen wird unter dramatischen Umständen ein gesundes Kind geboren. Die Freude darüber steht im diametralen Gegensatz zu den Spannungen, die sich an dem Verhältnis des alten Vaters zu seiner jungen, offenbar psychisch kranken Frau entzünden. Wer hier Täter und wer Opfer ist, bleibt für Hallstein wie auch für uns Leserinnen und Leser völlig unklar. Noch verwirrender wird die Situation für ihn, als die zerstrittenen Erwachsenen ihn unabhängig voneinander um seine Unterstützung bitten. Sie versuchen seine kindliche Naivität als Rettungsanker zu nutzen, in der Hoffnung, dass er noch unschuldig und ohne Falschheit ist.
Gleichzeitig ist er mit einem neuen, unbekannten Gefühl konfrontiert, das die 14-Jährige in ihm auslöst. In seiner Naivität missversteht er das Spiel, das dieses Mädchen mit ihm spielt, und deutet es falsch. Was er bei seiner Schwester beobachtet hat, widerfährt ihm nun selbst, ohne dass er den Zusammenhang erkennt.
Die Nacht ist für alle Beteiligten ein Wechselbad der Gefühle und existenziellen Extremsituationen. Für Hallstein ist es die Initiation in die Welt der Realität, in der gestritten, geliebt, geboren und gestorben wird, in der es keine Märchenfigur Gudrun mehr gibt, die man sich ausdenken kann, um mit ihr gefahrlos zu kommunizieren. Hier heißt das reale Mädchen Gudrun mit ganz realen Interessen und konkreten Vorstellungen. Für einen Träumer ist da kein Platz.
So plötzlich, wie diese Familie in das „alte, gelbe Haus“ eingebrochen ist, so plötzlich verlässt sie es auch wieder, nachdem das Unwetter sich verzogen hat und ein klarer Morgen erwacht ist.
Hallstein und Sissel versuchen, die Ordnung in dem Haus wiederherzustellen, aber Hallstein ist ein anderer geworden, auch an Sissel ist die Nacht nicht spurlos vorüber gegangen.
Der Aufbau dieses kleinen, intensiven Romans erinnert an die Tragikomödie bei Shakespeare, die nach dem Muster Order – Disorder – Order aufgebaut ist. Am Ende ist die Ordnung wieder hergestellt, aber die Menschen sind nun andere, sie haben sich gewandelt, sind reifer geworden und können sich der Realität stellen.
Tarjej Vesaas erzählt die Ereignisse dieser Nacht mit großer poetischer Kraft und starken Bildern, immer die Perspektive des Jungen einhaltend. Wir werden Zeuge der Dialoge, die er mit anhören muss und in die er hineingezogen wird, so dass wir als Leserinnen ganz nah am Geschehen sind. Es gelingt Vesaas meisterhaft, die Irrungen und Wirrungen des 14-järigen Jungen einzufangen.
Das bewirkt einen Sog, der mich als Leserin so in den Bann geschlagen hat, dass ich das Buch nicht weglegen konnte.
Ein unbedingt empfehlenswertes Buch!
Tarjei Vesaas, Frühlingsnacht; übersetzt aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henke; Guggolz Verlag 2025, 240 Seiten, 25 Euro.
Elke Trost
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