Aus gegebenem Anlass…..

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Das 1. Sinfoniekonzert der Saison im Staatstheater Darmstadt setzt ein Zeichen. Auf Anregung der Darmstädter Dotterstiftung entschied sich die Musiksparte für Benjamin Brittens 1961 entstandenes „War Requiem“, das die in den Gedichten Wilfred Owens beschriebenen Schrecken des Ersten Weltkrieges vertont. Diese Anregung erfolgte natürlich nicht aus dem Nichts, sondern beruht offensichtlich auf der derzeitigen geopolitischen Lage in der Ukraine und im Gaza-Streifen. Für den Israeli Daniel Cohen, GMD des Staatstheaters Darmstadt und Dirigent des Requiems, hat diese Konstellation eine besondere Bedeutung, die man auch als Belastung betrachten kann. Bei einem Gast-Dirigat in Italien zu eben demselben Thema äußerte sich Cohen in einem Interview persönlich zu der Weltlage und fand dabei deutliche Worte.

Der Lyriker Wilfred Owen wurde noch im Herbst 1918 eingezogen und im Schützengraben verschüttet. Seine traumatischen Erlebnisse hat er in Gedichten verarbeitet, die wiederum Britten als Textgrundlage für sein „War Requiem“ heranzog. Diese Texte tragen der Tenor Kieran Carrel und der Bariton Samuel Hasselhorn mal abwechselnd, mal gemeinsam zu der so dichten wie sparsamen Begleitung eines aus dem Orchester ausgegliederten Kammerensembles vor. Die Liturgie des Requiems dagegen – mit „Requiem Aeternam“, „Dies Irae“, „Offertorium“, „Sanctus“, „Agnus Dei“ und „Libera me“ – intonieren vier Chöre: Die Darmstädter Kantorei, der Konzertchor Darmstadt, der „Coventry Cathedral Boys Choir“ sowie die Kinder- und Jugendchor des Staatstheaters Darmstadt, letzterer aus dem Off. Dazu singt die stimm-mächtige Sopranistin Tamara Wilson Solopartien aus der Liturgie mit und ohne den Chor. Das Orchester konzentriert sich weitgehend auf das Zusammenspiel mit den Chören und begleitet das Kammer-Ensemble nur punktuell, während letzteres sich auf die musikalische Verdichtung – man mag hier nicht den marginalisierenden Begriff „Begleitung“ anwenden – der Männer-Partien konzentriert.

Die Sopranistin Tamara Wilson

Der Chor aus Coventry wurde ganz bewusst für diese Aufführung eingeladen, weil Coventry die erste Stadt war, die im Zweiten Weltkrieg einen desaströsen Angriff durch die – deutsche! – Luftwaffe erlebte – lange vor Hamburg, Darmstadt und Dresden. Auch hier also ein „memento mori“!

Brittens Requiem fordert mit seiner Dauer von neunzig Minuten nicht nur die Musiker, sondern auch das Publikum heraus. Es beginnt mit verhaltenem Glockengeläut zu getragenen Orchesterklängen und entferntem Chorgesang aus dem „Off“. Anschließend wechseln sich der Chor mit der Liturgie und die Männerstimmen mit Owens Gedichten ab. Letztere sind dabei auch inhaltlich soweit wie möglich den einzelnen Liturgieteilen zugeordnet. Das bietet sich an, da diese Gedichte mit ihrer Klage selbst liturgischen Charakter aufweisen, obwohl – oder gerade weil? – sie die Schrecken des Krieges detailliert aber mit lyrischer Pose beschreiben. Streckenweise erinnern diese Gedichte an die Klagen des Früh-Barocks, etwa bei Andreas Gryphius.

Der tenor Kieran Carrel

Die Grundstimmung des Werkes ist durch eine tiefe, fast resignative Verzweiflung geprägt, und selbst in den chorischen oder orchestralen Aufwallungen ist keine Hoffnung spürbar. Das traumatische Erlebnis des mörderischen Schützengrabens prägt die gesangliche wie orchestrale Musik, und nur der Chor mit den lateinischen Texten verströmt einen Ansatz von Trost, wie es ja in jedem Requiem seine Aufgabe ist. Doch in dieser Liturgie kommt die erhoffte Erlösung vom Jenseits, während Owen – und damit Britten – erkannt haben, dass die Ursache des Leids der Mensch ist und von dort keine Erlösung zu erwarten ist. Der Künstler Britten nimmt die Erlösungshoffnung der Religion zwar zur Kenntnis, leidet jedoch mit dem hoffnungslosen Owen., in dessen Gedichten kein rettender Gott auftaucht.

Der Bariton Samuel Hasselhorn

Die Musik ist, verglichen mit einem herkömmlichen Requiem, äußerst differenziert und vielfältig. Britten ging es nicht um die im Barock noch üblichen Vertonung einer in sich geschlossenen „Hoffnungs-Ideologie“, wenn man Religion so nennen darf -, sondern um die musikalische Darstellung der Auswirkungen des Krieges auf die Psyche der Betroffenen. Tiefe, an Lethargie grenzende Hoffnungslosigkeit wechselt sich mit verzweifelten Aufschreien und Protest ab, dann wieder schlägt sich der Schrecken des Krieges in kurzen Passagen unmittelbar in der Musik nieder. Die beiden Sänger vorne an der Rampe singen ihre traumatischen Texte mit hoher Dringlichkeit, und man sollte das Programmheft unbedingt zur Hand haben, um die Texte nachzuverfolgen, denn trotz guter Artikulation kann man diesen Texten wegen ihrer poetischen Struktur und der Echtzeit-Situation inhaltlich kaum folgen. Wenn man sie nachträglich liest, wird einem die ganze Bedeutung erst richtig bewusst.

Dieses Konzert sprengt die Grenzen eines normalen Sinfoniekonzerts, und selbst Werke wie Beethovens „Neunte“ können hier hinsichtlich der unmittelbaren Wirkung nicht mithalten. Während dort Weltprobleme durch die Musik abstrahiert werden, kommen sie hier unmittelbar und in aller Deutlichkeit zu Wort, und das lässt sich nicht mit einer abgehobenen Betrachtung rezipieren. Die verzweifelten Texte und die sie vertonende Musik bilden hier tatsächlich ein Gesamtkunstwerk, so wie es sich Richard Wagner immer erträumte – nur, dass dieses Gesamtkunstwerk kein Heldentum verkündet.

Das – darf man sagen: gewaltige? – Ensemble auf der Bühne leistet bei dieser Aufführung Außergewöhnliches und hält die Konzentration bis zum letzten „Amen“ auf höchstem Niveau. Das Kammerorchester vorne bei den beiden Sängern zeichnet sich dabei durch seine punktuellen Hervorhebungen und instrumentalen Unterstreichungen der Tenor- und Bariton-Partien aus.

Man wird dieses Konzert so schnell nicht vergessen.

Frank Raudszus

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