Der Titel dieses Buches lehnt sich an Kants Begriff der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ an und bezieht sich auf den Antisemitismus der letzten hundert Jahre, mit einem Schwerpunkt auf den letzten Jahren nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023. Dabei beleuchtet Gauß als Österreicher auch die Vergangenheit seiner Heimat bezüglich Leben und Leid jüdischer Mitbürger.
Das Buch enthält zwölf Essays, die verschiedene Zeitabschnitte seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts betrachten und lediglich durch das übergeordnete Thema des Antisemitismus verbunden sind. Gauß, selbst kein Jude, widmet sich dem Phänomen des Antisemitismus mit hohem Engagement und einem ausgeprägten „Mit-Leid“ – bewusst getrennt geschrieben. Alle Essays durchzieht die geradezu verzweifelte Frage, warum gerade der Hass auf die Juden immer wieder auflodert. Im Umfeld des Hamas-Massakers weist er auf eine besondere Paradoxie hin: während bei anderen Massakern vergleichbarer Art ein spontanes, weltweites Mitgefühl gegenüber der jeweils betroffenen Ethnie entstand – etwa bei Attentate auf muslimische Gruppen -, brachen bereits am Tage nach dem 7. Oktober Hassgesänge auf die Juden und Lobgesänge auf die „Helden“ und „Märtyrer“ – bei der Aktion starben einige Täter – der Hamas aus. Gauß konstatiert mit Schrecken, dass der Hass auf die Juden sich mit dem ihnen angetanen Leid steigert.
Besonders die Tatsache, dass die akademische Welt von Studenten bis hin zu Professoren sich deutlich gegen Israel mit Äußerungen wie „Genozid“ und „from the river to the sea“ positioniert sowie die Existenzberechtigung eines jüdischen Staates negiert, bereitet ihm große Probleme. Der rechte Antisemitismus ist bekannt und meist – nicht nur! – auf Bildungsferne und sozialen Frust zurückzuführen. Nach dem Schrecken des Dritten Reiches herrschte auch in linken Bildungskreisen lange Zeit eine – vorgetäuschte? – Ablehnung des Antisemitismus, doch mit dem Erstarken des israelischen Staates änderte sich das, wenn auch anfangs nur schleichend. Doch schon der für Israel erfolgreiche Sechstage-Krieg von 1967 weckte auch auf der Linken Gegnerschaft, und spätestens seid 9/11 und em Vormarsch des kämpferischen Islam hat die westliche Linke die Muslime als Opfer und die Israelis – sprich: die Juden – als Täter identifiziert. Gesteigert wird dies noch durch den Rassismus-Diskurs, der die Juden den Tätern – weil „weiß“ – und die Muslime den Opfern zuordnet, und Gauß weist explizit auf den Widerspruch in Gestalt der arabischen Abstammung eines großen Teils der israelischen Bevölkerung hin.
Ein weiteres Thema ist für ihn der Antisemitismus in verschiedenen Ländern des ehemaligen Ostblocks. So gab es sowohl in Polen als auch in Litauen massive Kollaboration mit den Nazis insofern, als einzelne Bevölkerungsgruppen die Vernichtung der Juden in eigener Juden nach dem „Vorbild“ der Nazi-Besetzer organisierten. Nach dem Krieg wollte davon lange Zeit niemand etwas davon wissen, und man schob das eigene Leid vor die eigene Schuld.
Daneben liefert Gauß Portraits verschiedener österreichischer Juden, die fliehen mussten und später ihre Probleme mit den Daheimgebliebenen hatten. So erfährt man nebenbei, das der Schriftsteller Jean Améry eben dieses Schicksal erlitt und der französische Name lediglich ein Anagramm von (Hans) Mayer darstellt.
Und es gibt auch historische Persönlichkeiten zu bestaunen, die kaum etwas mit dem Antisemitismus der Nazis zu tun hatten und dennoch eng mit dem Nahen Osten und Israel verbunden waren. So stellt Gauß zwei Österreicher vor, die, um 1900 geboren, die westliche (k.u.k-)Welt ablehnten und ihre Liebe zum Orient entdeckten. Einer wurde Israeli und erhoffte von den israelischen Juden eine friedliche Führungsrolle im Nahen Osten, während der andere arabischer Theologe wurde und das Gleiche von einem aufgeklärtem, friedliebenden Islam erhoffte. Letzterer starb im hohen Alter verbittert als „remigrierter“ Europäer.
Gauß´ Buch liefert eine engagierte Bestandsaufnahme vor allem des aktuellen Antisemitismus in seinen pro-palästinensischen Ausprägungen, aber blickt auch zurück auf weniger beachtete Erscheinungen dieses tausendjährigen Problems. Es sollte Pflichtlektüre an Schulen und Universitäten werden.
Das Buch ist im österreichischen Czernin-Verlag erschienen, umfasst 125 Seiten und kostet 22 Euro.
Frank Raudszus
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