Symphonische Fülle des 20. Jahrhunderts

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Das 2. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt fiel insofern aus dem Rahmen, als es ausschließlich Werke des 20. Jahrhunderts vorstellte. Angesichts einerseits der musikalischen Sprödigkeit bei gleichzeitigem hohem Anspruch und andererseits der Skepsis des Publikums gegenüber „moderner“ Musik mag das tatsächlich als riskant erscheinen, doch die Auswahl der Werke zeigte, dass auch die Moderne durchaus publikumswirksame Musik aufzuweisen hat. Maurice Ravel gilt unbestritten als einer der wichtigsten Komponisten der Neuzeit mit hoher Konzertpräsenz, und auch Edward Elgar erfreut sich einer gewissen Beliebtheit zumindest in Musikerkreisen. Dem breiten Publikum ist er am ehesten durch seinen Repertoire-Renner „Pomp and Circumstance“ bekannt. Dagegen ist die südkoreanische Komponistin Unsuk Chin eher musikalischen Insidern ein Begriff. Sie steuerte die Komposition „Frontispiece“ aus dem Jahr 2019 bei, während von Ravel das Klavierkonzert D-Dur für die linke Hand erklang und von Elgar die 1. Sinfonie in As-Dur. Für die Interpretation von Ravels Klavierkonzert konnte man die Pianistin Anna Vinnitskaya gewinnen, und die Leitung des Konzerts übernahm die portugiesische Dirigentin Rita Castro Blanco.

Die Dirigentin Rita Castro Blanco

Unsuk Chin musste sich lange als Autodidaktin durch die Musikwelt schlagen, ehe sie sich einen Namen erarbeiten konnte. Heute gehört sie zu den renommierten Komponisten und hat bereits eine Reihe von Preisen gewonnen. Ihr Stück „Frontispiece“ dauert nur acht Minuten, durchläuft aber in dieser kurzen Zeit ein breites symphonisches Spektrum. Es beginnt verhalten mit einzelnen Holzbläsern und entwickelt schnell einen thematischen Ansatz mit tonalem Charakter, der jedoch in ein reines Klangspiel übergeht. Es folgt ein dramatischer Aufschwung mit abrupten Wechseln der Motive und der Instrumentation. Nach einer Passage mit schnellen Wechseln der Motive folgt eine ruhige Streicherpartie, die bisweilen an Gustav Mahler erinnert. Überhaupt erstaunt die Nähe dieses zeitgenössischen Stücks zur Musik der vorletzten Jahrhundertwende mit ihren weit geschwungenen symphonischen Linien und der dichten Instrumentierung, die hier nur von Zeit zu Zeit durchbrochen wird von dissonanten, jedoch nie atonalen Ausbrüchen. Der Dirigentin gelang es überzeugend, diese Kontraste im Verbund mit einem sehr aufmerksamen Orchester herauszuarbeiten und ein lebendiges Stück Musik in den Raum zu zaubern.

Ravels Klavierkonzert für die linke Hand entstand im Auftrag des Pianisten Paul Wittgenstein – Bruder des Philosophen Ludwig -, der im Krieg seinen rechten Arm verloren hatte, das Klavierspielen aber nicht aufgeben wollte. Für Ravel bestand die Herausforderung darin, diese Behinderung nicht in der Partitur zu zu verdeutlichen, sondern eher unsichtbar zu machen. So schuf er ein geradezu virtuoses Konzert, das für einen normalen Pianisten mit der typischen linken „Begleithand“ wohl unspielbar gewesen wäre. Doch Paul Wittgenstein gelang es, die linke Hand für zwei spielen zu lassen, und das Stück wurde gerade wegen seines hohen Anspruchs ein Erfolg. Anna Vinnitskaya spielte es tatsächlich nur mit der Linken, was selbst für eine Pianistin ihres Ranges entsprechende Übung erfordert haben dürfte.

Anna Vinnitskaya

Nach dem tief einsetzenden Beginn mit Kontrabässen und Bläsern entwickeln die Streicher und dann das gesamte Orchester einen hymnenartigen Gestus, in den dann das Klavier mit tiefen Akkorden einsetzt. Nach einem längeren virtuosen Solo ohne jegliche pianistische Einschränkungen folgt ein getragenes Zwischenspiel des Orchesters. Im Folgenden ließ Anna Vinnitskaya ihre linke Hand abwechselnd die Themen und die Begleitfiguren spielen, wobei beide – nahezu wie beim zweihändigen Vortrag – nahtlos ineinander übergingen. Die für den Anfang des letzten Jahrhunderts typische weltfremde Stimmung schlägt dann um in einen Marsch, es folgen verspielte Passagen mit Bläsern und Klavier. Dann wieder ertönt ein ostinater, pochender Rhythmus, der schon Anklänge an den Jazz enthält. Das weit ausladende Solo des Flügels erinnert dann tatsächlich an Gershwins „Rhapsodie in Blue“ und andere Stücke dieses Jazz-Komponisten. Doch Ravel hat hier nicht kopiert, sondern sehr geschickt nachempfunden, und immer wieder findet er seinen Weg zurück zu seinem ganz eigenen symphonischen Klang.

Anna Vinnitskaya zeigte mit dieser Interpretation nicht nur ihr stupendes technisches Können, sondern auch ihr feines musikalisches Gehör und das Gespür für ganz andere Klangfarben und Metriken. Doch keinen Augenblick lang inszenierte sie sich als Solistin, sondern beschränkte sich auf eine möglichst authentische Interpretation des Ravel-Werkes.

Nach der Pause dirigierte Rita Castro Blanco die selten gespielte erste Sinfonie von Edward Elgar, die noch Anfang des 20. Jahrhunderts von verschiedenen Größen des Musikbetriebes hoch gelobt wurde – etwa als „Brahms´ Fünfte“ -, aber dann in der Senke der Konzertlandschaft verschwand. Rita Castro Blanco bewies zusammen mit dem Orchester des Staatstheaters, dass diese Nichtbeachtung zu Unrecht erfolgte. Wer heute noch Brahms spielt, muss auch Elgar spielen, und das taten die Beteiligten mit großer Spielfreude und viel Sinn für die Vielfalt des symphonischen Ausdrucks.

Der erste Satz beginnt mit getragenen 6/8-Figuren der Holzbläser und schwingt sich dann langsam zum Majestätischen auf. Es folgt ein zweites, dramatisches Thema im 4/4-Takt, und die anschließenden nachdenklichen Passagen mit wechselnden Bläsern lassen diesen langen ersten Satz schon wie eine vollständige Sinfonie wirken. Der zweite Satz – Allegretto molto – setzt mit einem Paukenschlag ein, dem schnelle Streicherfiguren folgen, die wiederum in einen Marschrhythmus münden. Dann folgt ein nahezu idyllisches Zwischenspiel mit warmen Holzbläsern, und die wechselnde Instrumentation sowie die raffinierte Klangvielfalt verleihen diesem Satz eine expressive sinfonische Grundstimmung.

Nahtlos entwickelt sich daraus das Adagio des dritten Satzes mit schwelgerischen Klängen, und die stets durchschimmernde Schwermut erinnert an die langsamen Sätze von Gustav Mahler oder Richard Wagner. Dieser Satz intoniert den Begriff der Endlosigkeit. Der Finalsatz bleibt anfangs noch gefangen in der Ruhe des dritten, schwingt sich dann auf zu einem fast tänzerischen Allegro, um schließlich mit einem repräsentativen, bisweilen majestätischen Gestus auszuklingen.

Dirigentin und Orchester erzählten in dieser Interpretation eine weitläufige Geschichte, deren Episoden und emotionalen Momente wie die Ereignisse eines Handlungsablaufs an den Zuhörern vorbeizogen. Doch in keinem Augenblick mutierte diese Aufführung zur Programm-Musik mit eindeutigen Symbolen einer realen Handlung. Und das ist sowohl der Kunst des Komponisten als auch der Aufführung des Ensembles auf der Orchesterbühne zu danken. Das Publikum wurde noch einmal in die geistig-seelische Welt vor dem Ersten Weltkrieg zurückversetzt, als die Welt – scheinbar – noch in Ordnung war und große Gefühle erlaubte. Und es war doch nicht „Brahms´ Fünfte“, sondern eindeutig Elgars „Erste“.

Frank Raudszus

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