Die Naturwissenschaft definiert den „Impuls“ als ein zeitlich scharf begrenztes Ereignis mit hoher kinetischer Energie. Doch das „Da Capo“-Varieté ändert diese Sicht in seinem neuen Programm „Impuls“, indem es den Impuls des Titels auf eine zweistündige Dauer ausweitet, und das, ohne den Effekt dieses Phänomens einzuschränken; will sagen: dieser Impuls hält seine Energie bis zum Schluss durch einen permanenten Nachschub an akrobatischen, tänzerischen und musikalischen Mitteln.
So gesehen war auch die Entscheidung, dieses Mal auf eine Pause zu verzichten, wohl überlegt, denn eine Pause lässt den Spannungsbogen beim Publikum zwangsläufig abflachen, und erfahrungsgemäß stellt das Wiederanfahren der Spannung nach der entspannenden Pause ein Problem dar. Nicht so an diesem Abend, der das Publikum von der ersten bis zur letzten Minute in seinen Bann zog und die meisten Zuschauer gar nicht an eine Pause denken ließ.
Dabei beginnt es eigentlich eher ein wenig nervig. Ein anfangs nicht einzuordnender weil stummer Mitarbeiter kündigt den verspäteten Beginn – bewusstes Spannungsmoment? – per Schild in Minutenabständen an. Später stellte er sich in einem Duo in Gebärdensprache als der taube Okan vor, vertont von seinem Comedian-Kollegen. Beide werden abwechselnd die – kurzen – Pausen zwischen den verschiedenen akrobatischen Nummern mit komödiantischen Sketchen füllen.
Hoch über der Manege sorgen zwei symmetrisch ausgestellte Schlagzeuger zu aktueller Popmusik vom ersten Augenblick an für Tempo und „Sound“, der nur für die punktuellen Auftritte der Komödianten zurückgefahren wird. Dazu leuchtet ein Lichtspektakel mit wandernden Lichtkegeln und schnell wechselnden Farben auf, das die Halle in ein Farbenmeer verwandelt. Das ist nichts für schwache Nerven, aber das weiß man ja bei „Da Capo“ schon vorher.
Die fünf Tänzerinnen mit perfekten Figuren und gewagten Kostümen aller Schattierungen sind ein weiteres Bindeglied zwischen den einzelnen Artistik-Nummern. Jedesmal treten sie in anderen Kostümen auf, mal als geschlossene Gruppe, mal rund um die Manege verteilt. Allein ihre Auftritte sind schon den Besuch wert.
Nach der beeindruckenden Seilakrobatin in luftiger Höhe tritt eine blau gekleidete Gruppe mit diversen Springseilen auf, wie Kinder auf dem Schulhof, aber mit einer so komplizierten wie akrobatischen Choreographie, und man erwartet permanent, dass sich die „Springer“ und „Flieger“ in den Seilen verfangen; tun sie aber nicht!
Nach der bereits erwähnten doppelzüngigen Vorstellung des sprachlosen Komödianten Okan und dem Auftritt einer weiteren Seiltänzerin zeigen zwei Bodenturner ihre unglaubliche Körperbeherrschung bei gewagten Sprüngen und Salti, dann stellt sich der Zauberer mit scheinbar trivialen Zaubertricks als nur netter Scharlatan dar, dessen Tricks sich am Ende jedoch durchaus nicht als billig erweisen. „Understatement als Programm“ könnte man diesen eher als Small Talk daher kommende Auftritt bezeichnen, verzichtet er doch bewusst auf grelle Dynamik und den schnelle Lacher und kommt eher subkutan daher.
Die nächsten Bodenakrobaten türmen sich unter anderem zu einer Menschensäule auf und glänzen mit gewagten Mehrfach-Salti aus schwierigen Lagen; dann hangelt sich eine einsame, nicht abgesicherte(!) Akrobatin in unglaublichen Körperstellungen an der über der Manege hängenden Stange entlang, als sei das die leichteste Sache der Welt, und erst der Komödiant im rosa Batman-Kostüm und unter Assistenz aus dem Publikum zeigt, dass seine vorgebliche Tolpatschigkeit nur in den Erwartungen des Publikums existiert, wenn er alleine wie selbstverständlich auf einer aufrecht stehenden Leiter balanciert.
Eine Gruppe aus drei Männern zeigt ein Sprungprogramm auf einer von zwei kräftigen Schultern getragenen Schwungstange, die dem Springer ungeahnte Beschleunigungen und Höhen verleiht, und ein Paar auf Rollschuhen führt einen furiosen Kreiseltanz unter genialer Nutzung der Fliehkraft vor.
Den Schluss bildet eine Motorrad-Rallye von anfangs zwei, dann drei und schließlich vier Fahrern im Inneren eines kugelförmigen Metallkäfigs. Man hält es nicht für möglich, dass vier Zweiräder in diesem Tempo auf solch engem Raum die unterschiedlichsten Figuren vorführen, ohne sich ineinander zu verkeilen. Wenn alle vier den höllischen Käfig heil verlassen haben, beginnt der große Abschluss-Korso aller Beteiligten, um sich den verdienten Beifall des Publikums abzuholen.
Dieser Impuls hat nicht nur über zwei Stunden das hohe energetische Niveau gehalten, sondern er hat es auch in den Erinnerungen des Besuchers noch noch für Tage oder Wochen gespeichert.
Frank Raudszus



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