„Uns bleibt nur das Staunen“

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Die Jugendwerke renommierter Künstler werden oft wie rohe Eier behandelt, weil man einerseits auch diese Facette der jeweiligen künstlerischen Persönlichkeit nicht vernachlässigen möchte und weil andererseits diesen Werken oft noch deutliche Schwächen anzumerken sind. Auf sinnfällige Beispiele für Letzteres wollen wir hier nicht näher eingehen. So könnte man auch Wolfgang Amadeus Mozarts frühe Oper „Mitridate, re di Ponto“, die jetzt in der Oper Frankfurt zu hören und zu sehen ist, als ersten Versuch eines Vierzehnjährigen(!!) belächeln und die aktuelle Inszenierung als Versuch deuten, aus diesem genialen Künstler noch etwas „herauszupressen“, das sich allein wegen des Namens gut verkauft.

Franko Klisovic und Bianca Tognocchi

Könnte man – aber man sollte sich diese Inszenierung genau anschauen, bevor man zu vorschnellen Urteilen kommt. Und wer die dreistündige Aufführung dieser Oper gesehen hat, spricht nicht mehr vom Versuch eines halben Kindes, sondern ist berührt von der emotionalen Tiefe und Reife dieses Werkes, von der Qualität der Inszenierung ganz zu schweigen. Aber man darf mit Fug und Recht behaupten, dass auch eine weniger inspirierte Inszenierung dieser Oper kaum ihre Wirkung hätte nehmen können. Die Musik spricht für sich, und so zitierte der Dramaturg Konrad Kuhn bei seinem Einführungsvortrag auch Nikolaus Harnoncourt mit dem Satz „Mozart ist ….. im Teenager-Alter bereits ein Philosoph. Der verfügt über ein Wissen, über das er offensichtlich nur dann verfügt, wenn er in Tönen denkt. Über das er etwa von seiner Lebenserfahrung her gar nicht verfügen kann. Uns bleibt nur das Staunen.“ Vor allem dem letzten Satz ist nichts hinzuzufügen, und daher steht er als Leitspruch über diesem Bericht.

Die Handlung der Oper steht noch deutlich in der Tradition des Barocks. Bach war erst zwanzig, Händel sogar erst gut zehn Jahre tot, und Joseph Haydn war der erste und bis dahin einzige Komponist, der die Musik aus den Vorgaben der Kirche und der Höfe befreit hatte. Auch die Handlung basiert noch auf den hierarchischen, fast mythischen Themen des Barock. Da geht es nicht um handfeste gesellschaftliche Ungerechtigkeiten wie etwa später bei der „Hochzeit des Figaro“, sondern um die Nachfolge des Königs, um Vater-Sohn-Konflikte und den Kontrast zwischen dynastischen Ehen und der erotischen Liebe. Diese Konflikte werden nicht darstellerisch in musikalischen Handlungsduetten ausgetragen, sondern in seriell vorgetragenen Arien, die von handlungstreibenden Rezitativen verbunden werden. Das kann natürlich schnell zu Längen führen, was man bereits im Barock mit Tanzeinlagen und anderen Lockerungsideen verhindern wollte. Heute stellt die Technik eine Reihe weiterer Möglichkeiten zur „Animation“ solcher Barock-Opern zur Verfügung.

Bianca Tognocchi, Robert Murray und Monika Buczkowska-Ward

Regisseur Klaus Guth und Bühnenbildner Christian Schmidt nutzen hierfür die Drehbühne, indem sie auf der Vorderseite den realen Handlungsraum darstellen und auf der Rückseite die Innenwelt der Protagonisten mit einem Heer von Lemuren und Geistergestalten bevölkern. Vor allem die monologischen Arien, in denen die verschiedenen Figuren sich selbst und dem Publikum ihr jeweiliges Leid klagen, finden hier statt, und die Ängste, Sehnsüchte und Hoffnungen schwirren hier in Gestalt von vermummten Tänzern oder vervielfältigten Kopien der angebeteten Person(en) vor einer raumfüllenden konkaven Wand um die klagende Person herum.

Die Handlung ist in die Jetztzeit verlegt, in der Mitridate (Robert Murray) als Großunternehmer fungiert. Als er auf einer Dienstreise – Krieg gegen Rom! – angeblich stirbt, macht sich sein älterer Sohn Farnace (Countertenor Franko Klisovic) sofort an die junge Braut Aspasia (Bianca Tognocchi) des Vaters heran, sowohl auf sie als Frau als auch auf die Firmenleitung hoffend. Doch auch sein jüngerer Bruder Sifarne (Sopranistin Monika Buczkowska-Ward) ist der Braut des Vaters verfallen – und sie ihm. Doch Mitridate hat seinen Tod bewusst lanciert, um seine Söhne zu testen, und holt nun zur großen Rache aus, die im schlimmsten Fall zum Tod sowohl der Söhne als auch der Frau führen kann. Das emotionale Geschehen schwankt von einem Extrem zum anderen, und dass sich zum Schluss eine Art „Happy End“ ergibt, zeichnet sich schon früh ab, allein schon, weil das höfische Publikum des Barocks dies so wollte.

Die Regie entkleidet die handelnden Personen des üblichen barocken Ernstes, der stets Todesnähe suggeriert, und stattet vor allem Farnace mit der heute üblichen Flapsigkeit in Jetset-Kreisen aus. Franco Klisovic gibt den Farnace von Beginn an als kommenden Firmenchef, der vor Selbstgewissheit kaum zu halten ist. Dagegen spielt Monika Buczkowska-Ward den Sifare als scheuen Jüngling, der als Nachfolger des Vaters sowieso nicht in Frage kommt und seine Liebe zu Aspasia lange unterdrückt. Und Bianca Tognocchi spielt die Aspasia als emanzipierte Frau, die versucht, die Dinge im Griff zu behalten. Ähnlich ist die Ismene von Younji Yi angelegt, die ebenfalls versucht, irgendwie Ordnung in die verwickelten Emotionen zu bringen. Dass auch die beiden Frauen den wütenden Mitridate nicht beruhigen können, steigert das Drama bis an den Rand der Katastrophe.

Robert Murray und Monika Buczkowska-Ward

Zentrale Bedeutung haben die Arien der einzelnen Liebenden, in denen die Qual und die Angst der jeweiligen Figur umfassend zum Ausdruck kommen. Man kann als Zuschauer (und -hörer) kaum glauben, dass diese koloraturreichen Arien und die sie begleitende Orchestermusik tatsächlich von einem Vierzehnjährigen stammen, der wahrscheinlich noch gar nicht die Pubertät erreicht hatte. Die emotionalen Ausbrüche sind derart vielfältig und tiefgehend, dass man ein ganzes Menschenleben als Erfahrungsschatz dahinter vermutet. Und man erkennt in den Melodielinien und der dynamischen Paraphrasierung bereits den späteren Mozart. Unverkennbar sowohl die Einleitungen bestimmter musikalischer Passagen wie auch ihre Höhepunkte und schließlich ihr Ende auf der Tonika. Wenn auch die musikalische Raffinesse des späten Mozarts noch fehlt, ist doch schon alles angelegt.

Faszinierend ist auch die Fähigkeit des jungen Mozart, den Spannungsbogen dieser dreistündigen Oper auch musikalisch bis zum Schluss auf hohem Niveau zu halten. Wer glaubt, dass etwa nach einer dramatischen Arie einer der Frauen keine Steigerung mehr kommen kann, erlebt Mitridates große Verzweiflung und dann Farnaces Läuterung als große musikalische – nicht nur gesangliche – Ereignisse. Bis zum übrigens ziemlich plötzlichen Schluss ohne Ringelreihen wie bei Beethovens „Fidelio“ treibt sowohl die Szenerie als auch die Musik immer wieder zu neuen Höhepunkten, und neben den unglaublich guten Sängern leistet auch das Orchester unter der Leitung von Leo Hussain Bemerkenswertes.

Bei den gesanglichen Leistungen ist es schwer, jemand besonders hervorzuheben. Bianca Tognocchi präsentiert die Koloraturen der leidgeprüften Aspasia mit Leichtigkeit und Verve, Monica Buczkowska-Ward stattet den Jüngling Sifarne mit einer anrührende emotionalen Wärme aus und liefert nebenbei ebenfalls silbrige Koloraturen, und Younji Yi sorgt als Ismene für kraftvolle Töne. Franko Klisovic brilliert als lupenreiner Counter-Tenor, und Robert Murray schließlich setzt einen kraftvollen Tenor dagegen, der bisweilen fast als Bariton durchgehen könnte. Bei keinem dieser Ensemblemitglieder waren auch nur kurzzeitige Schwächen festzustellen. Jeder strahlte bis zum Ende gesangliche – und darstellerische – Souveränität aus.

Das Publikum erkannte diese Leistung uneingeschränkt an und sparte weder mit Szenen noch mit Abschlussapplaus, der lang und begeistert ausfiel.

Frank Raudszus

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