Eva Illouz ist eine israelisch-französische Soziologin, lehrt u. a. an der Universität von Jerusalem und hat sich in letzter Zeit mehrfach als Israel-Kritikerin gemeldet. Der Titel des vorliegenden Buches verweist bewusst nicht auf den Tag des Hamas-Massakers an israelischen Kibbuz-Bewohnern und Rave-Fans, sondern auf den Tag danach. Hier haben sie vor allem die Reaktionen eines Teils der internationalen Linken, u.a. auch in Deutschland, verwundert und erschreckt. Sie zitiert verschiedene Intellektuelle, vorrangig an Universitäten, die das Massaker freudig begrüßten, weil sie es als endlich fällige „Notwehr“ der Palästinenser für die Repression durch die Israelis betrachteten.
Illouz ist vor allem von der Abwesenheit jeden Mitleids erstaunt, das die Linke stets wie ein Markenzeichen pflegte, angefangen bei den ausgebeuteten Arbeitern des 19. Jahrhunderts und heute noch intensiv gepflegt bei allen unterdrückten Minderheiten. Nur bei den hingemordeten Säuglingen und schwangeren Frauen des 7. Oktober 1923 will sich dieses Mitleid offensichtlich nicht einstellen, sondern wird mehr oder minder durch die schadenfrohe(!) Bemerkung „selbst schuld“ ersetzt.
Um diese unterschiedliche Bewertung menschlichen Lebens gerade durch eine sich humanistisch gebende politische Kaste zu verstehen, geht Illouz weit zurück. Offensichtlich hat sich der Antisemitismus entgegen allen Lippenbekenntnissen auch und vor allem bei der Linken gehalten und war nur in der Nachkriegszeit – vor allem in Deutschland – inopportun, obwohl schon Marx, den Illouz entsprechend zitiert, zur Befreiung vom Geld handelnden Judentum aufgerufen hatte. Sie wird dann fündig bei der French Theorie der Dekonstruktivisten, zum Beispiel Jacques Derrida, und deren Behauptung, die Wirklichkeit sei nur eine Konstruktion, die sich jederzeit – im Sinne einer Befreiung – dekonstruieren lasse. Zu dieser „Wirklichkeit“ gehörten dann auch sämtliche Wertesysteme wie Religion, Humanismus, Aufklärung, Demokratie, Rechtsstaat u.v.a.m.. Das erinnert an Descartes Vorstellung einer von den Sinnesorganen nur vorgetäuschten Welt und erlaubt, ja gebietet förmlich, alles in Frage zu stellen. Die Dekonstruktivisten verorteten hinter diesen Konstruktionen die „Macht“, vertreten durch wen auch immer, hüteten sich aber, Namen zu nennen. Gemeint war natürlich im weitesten Sinne der westliche Kapitalismus. Mit der „Entlarvung“ dieser Konstruktionen hatten sich die Intellektuellen laut Illouz automatisch moralisch immunisiert, denn der Aufdecker einer Verschwörung gehört per definitionem nicht nur nicht dazu, sondern verdient sogar höchstes moralisches Lob.
Illouz zeichnet die Argumentation der Dekonstruktivisten dahingehend nach, dass im Mittelpunkt dieses geheimen Machtgefüges die Juden stehen. Dazu muss man keine komplizierten logischen Ketten aufbauen, sondern kann sich mehr oder minder geschickt bei den antisemitischen Mythen der Vergangenheit bedienen. Dabei betont Illouz, dass die Verortung des konstruktivistischen Machtgefüges nicht explizit bei der jüdischen Diaspora erfolge, sondern vordergründig bei dem Staat Israel und seinem durchaus kritikwürdigen Vorgehen im Nahen Osten. Außerdem weist sie darauf hin, dass aus diesen kritischen Kreisen keine gleichlautenden Anklagen gegen Russland, China, den Iran oder diverse afrikanische Staaten zu hören sind. Der Fokus der moralischen Ausgrenzung liegt eindeutig auf Israel.
Ähnlich dem „structural racism“ haben auch die Dekonstruktivisten ihre Theorie insofern ausgebaut, als sie nicht mehr konkreten Individuen oder Institutionen wegen sprachlicher Manipulation anklagen, sondern dahinter eine fundamentalen Struktur ansiedeln, die unabhängig von konkreten Akteuren existiert. Das hat den Vorteil, dass man diese abstrakte Strukur in beliebigen Kontexten aufrufen kann und gleichzeitig die argumentative Auseinandersetzung vermeidet. Man bleibt als entlarvende Instanz damit un(an)greifbar.
Eine Erweiterung dieser Argumentation besteht darin, den Begriff der „Dekolonialität“ zu definieren, die darin besteht, dass es auch nach praktisch-faktischer Beendigung der kolonialen Epoche beliebig lange nachwirkende strukturelle (s.o.) Wesenszüge des Kolonialwesens in den westlichen Gesellschaften gibt, die die weltweite Ungleichheit perpetuieren und die es zu bekämpfen gilt. Im Falle Israel muss man dann nur noch systematisch die Schoa relativieren, um dann schließlich, angefangen beim Sechstage-Krieg 1967 und nicht endend mit dem Gaza-Krieg, Israel vom Opfer zum Täter stempeln zu können. So werden die Israelis, vom gleicher ethnischer Herkunft wie die sie umgebenden Gesellschaften, vom rassistisch verfolgten Opfer zum rassistischen Täter. Allein ihre technologische und militärische Macht macht die Israelis dann zu „Weißen“, d.h. Kolonialisten. Denen kann man dann Verteidigungskriege als Völkermord unterschieben und – ultimatives Paradox! – die Juden mit Hitler vergleichen.
Eva Illouz präsentiert diese Argumentationskette mit durchgängiger Sachlichkeit und logischer Akribie. Man spürt ihrem Essay an, wie sehr sie sich um eine sachliche, der Vernunft gehorchende Ausdrucksweise bemüht. Ihre Empörung ergibt sich vor allem aus den intellektuellen Winkelzügen der israelfeindlichen – oder soll man sagen „antisemitischen“? – Linken und weniger aus dem sprachlichen Stil dieses Essays.
Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 102 Seiten und kostet 12 Euro.
Frank Raudszus


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