Michael Fleiter: „Die Wahrheit ist nackt am schönsten“

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Arthur Schopenhauers philosophische Provokation

Wer dieses Buch nur nach dem Titel beurteilt, mag leicht einem enttäuschenden Irrtum aufsitzen, der noch dadurch ironisch verstärkt wird, dass der Gegenstand des Buches dem eventuell Imaginierten recht kritisch gesonnen war. Spätestens beim Anblick des Buchumschlags wird sowohl aus dem Untertitel als auch der Grafik klar, dass es sich hierbei nicht um eine Monographie der „Wasserstraßen“ um den Frankfurter Hauptbahnhof herum handelt. Doch um Frankfurt geht es implizit schon. Denn schließlich hat das Frankfurter „Institut für Stadtgeschichte“ dieses Buch über eine der vielleicht wichtigsten Geistesgrößen der heutigen Bankenmetropole – den ersten Platz würde posthum sicherlich Adorno noch vor jedem „Anderen“ für sich in Anspruch nehmen –  herausgegeben.

Arthur Schopenhauer ist vielen Bürgern nur als misanthropischer Frauenverächter und vielleicht noch ein wenig seltsamer Philosoph bekannt. Aus unerfindlichen Gründen entwickelte er nie die Strahlkraft eines Kant, Hegel oder Nietzsche, die selbst der philosophisch viertel- bis halbgebildete Zeitgenosse zumindest namentlich als große Philosophen einordnen kann. Dass die Stadt Frankfurt mit diesem Band eine Art „Besitzanspruch“ auf Schopenhauer erhebt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, da er sich erst im Alter von 45 Jahren hier niederließ und das auch noch hauptsächlich in Form einer Flucht aus Berlin tat, wo er eher erfolglos als Philosophieprofessor gearbeitet hatte und wo eine Epidemie ausgebrochen war. Davor hatte er viele Jahre in Hamburg und vor allem in Weimar verbracht, wo er auch über einen literarischen Salon seiner Mutter mit Goethe in Kontakt gekommen war. Doch Weimar hat ihm bisher kein Denkmal in Form einer Monographie gewidmet. Dafür hatte man dort offensichtlich größere Lichtgestalten.

Arthur Schopenhauers Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ weckt allein vom Titel Assoziationen an „Wille zur Macht“ und noch spätere Missverständnisse und Fehldeutungen. Dafür kann Schopenhauer natürlich nichts, doch die Bereinigung eines solchen Vorurteils erfordert die Lektüre der Primärliteratur – eben „Die Welt als Wille und Vorstellung“ – oder zumindest übersichtlich gestalteter Sekundärliteratur. Und damit kommen wir zu dem vorliegenden Band von Michael Fleiter, der sich als Frankfurter Philosoph sowie Geschichts- und Geschichtenliebhaber vor allem für Schopenhauer und  Nietzsche interessiert hat, über die er schließlich auch promoviert wurde. Heute arbeitet er für das „Institut für Stadtgeschichte“ und hat in diesem Rahmen mit der Hilfe einer Reihe anderer namhafter Autoren den vorliegende Band herausgegeben.

Eine Retrospektive auf einen großen Sohn einer Stadt unterliegt immer der Gefahr, einem gewissen Lokalpatriotismus zu huldigen und das Anekdotische sowie das Lokalkolorit in den Vordergrund zu rücken. Doch Fleiter umgeht diese Falle dadurch, dass er von Beginn an Schopenhauers philosophisches Denken und Wirken in den Mittelpunkt stellt und namhafte Experten in Essays zu verschiedenen Aspekten von Schopenhauers Philosophie zu Wort kommen lässt. Dabei achten diese Autoren bewusst auf die Einhaltung eines hohen intellektuellen Niveaus und verzichten darauf, die „spätidealistischen Damen jenseits der fünfzig“ anzusprechen, um einmal eine aktuelle Bemerkung von Peter Sloterdijk zu zitieren. Jeder Aufsatz verlangt eine sorgfältige, mitdenkende Lektüre, und so manchen Satz muss man zwei Mal lesen, um die dahinter stehende Aussage zu verstehen.
Matthias Kössler skizziert im ersten Aufsatz Schopenhauers philosophische Entwicklung bis zu seiner Ankunft in Frankfurt, als sein Hauptwerk bereits seit fünfzehn Jahren wie Blei in den Lagern des Verlegers lag. Kössler erläutert den Begriff des „Willens“, den Schopenhauer als elementaren, nicht rational grundierten Lebenstrieb verstand. Insofern lag Schopenhauer schon früh auf der Linie des späteren Evolutionstheoretikers Darwin, der – grob gesagt – das Prinzip des „Kampfs ums Überleben“ formulierte. Die „Vorstellung“ bei Schopenhauer erinnert etwas an Descartes, der schon viel früher die reale Welt als reine Vorstellung des Geistes deklarierte und beim Denken als einzigem Existenzbeweis landete („cogito ergo sum“). Doch Schopenhauer ist nicht Determinist wie Descartes, und vor allem trennt er nicht wie dieser fein säuberlich Geist und Körper. So kann er auch Hegel nicht folgen, der den Geist als das dominierende Element des Menschen sah. Auch das Verhältnis zu Kant kommt zur Sprache, den Schopenhauer verehrte und doch in einigen Punkten nach eigener Sicht weiterentwickelte.

Ein weiterer Aufsatz von Günter Göde gilt der Frage, inwieweit Nietzsche und Freud Schopenhauers Lehre verarbeitet und übernommen haben. Weitere Aufsätze gelten der eher pessimistischen Einstellung Schopenhauers gegenüber der Geschichte und speziell des „Fortschritts“, worin immer dieser bestehen mag, und über „Recht und Staat“, denen er beiden angesichts des niederträchtigen Wesens des Menschen eine wichtige Aufgabe beimisst. Auch zur Ästhetik hat sich Schopenhauer geäußert, wie Brigitte Scheer ausführt, und sogar eine „Tierethik“ hat er entwickelt, die nicht weit von der heutiger Tierschützer entfernt ist. Die Religion darf natürlich nicht fehlen. Schopenhauer versucht hier, eine neutrale Rolle einzunehmen, und betrachtet die Religion eher als geistesgeschichtliches Phänomen denn als persönliches metaphysisches Bedürfnis. Er erkennt die Trostfunktion der Religion – vor allem für die breite Masse – an, sieht aber dennoch die Religion aufgrund der fortschreitenden Aufklärung verschwinden. Verständlich, dass ihm die Theologen nicht besonders gewogen waren. Den Abschluss bildet eine Diskussion seiner Wirkungsgeschichte, die erst spät, dann aber vehement einsetzte, und seiner persönlichen Metaphysik, die er im Ausschalten des anfangs definierten Willens sah. Wenn der (Lebens-)Wille einmal besiegt ist, bleibt die reine, konfliktfreie Anschauung und schließlich das ersehnte Nirwana.

Der vorliegende Band kann ein Studium von Schopenhauers Werken nicht ersetzen. Es kann aber das Interesse an einer solchen Lektüre wecken und Anreize dazu setzen. Dazu hat Fleiter jedes Thema mit kurzen, fett gedruckten Zusammenfassungen eingeleitet, denen entsprechende – ebenfalls kurze – Originalpassagen folgen. Der jeweilige Essay geht dann aus philosophiefachlicher Sicht auf den jeweiligen Gegenstand näher ein. Eine Liste aller Ausstellungsobjekte zu Schopenhauer im Institut für Stadtgeschichte sowie kurze Autorenbiographien und ein Namensregister runden diesen informativen und durchaus anspruchsvollen Band ab.

Das Buch „Die Wahrheit ist nackt am schönsten“ ist im Societäts-Verlag unter der ISBN 978-3-7973-1243-3 erschienen, umfasst 254 Seiten und kostet 24,90 €.

Frank Raudszus

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