Jenny Erpenbeck: „Aller Tage Abend“

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Biographie eines Jahrhunderts

Aus der Retrospektive betrachtet, lässt sich dieses Buch als die Biographie einer jungen Frau lesen, die Anfang des 20. Jahrhunderts im fernen Galizien als Tochter einer Halbjüdin zur Welt kommt und Ende des Jahrhunderts in einem Berliner Altersheim einen normalen Alterstod erleidet.

Zwischen diesen beiden Enddaten liegen jedoch existenzgefährdende Phasen, die jeweils zu einem vorzeitigen Tod führen können. Da die Leser überstandene Gefahren der Protagonisten gerne marginalisieren und ihre existenzielle Bedeutung nicht mehr wahrnehmen, hat sich die Autorin einen besonderen dramaturgischen Trick ausgedacht: sie lässt die Protagonistin an insgesamt fünf entscheidenden Lebensabschnitten sterben, womit dann die jeweilige Geschichte ein Ende nimmt. Danach jedoch stellt sie die Frage „Was wäre wenn?“ und verdeutlicht damit, dass jede, auch die katastrophalste, Lebenssituation auch anders hätte ausgehen können, wenn diese oder jene Randbedingung nur ein wenig anders ausgesehen hätte. In dem jeweils darauf folgenden „Buch“ – das ist die wesentliche Einteilung des Romans – lässt sie die soeben Gestorbene die jeweilige Situation überstehen und weiterleben. Nur der letzte Tod ist und bleibt endgültig.

In einem klassischen Roman hätte die Autorin die einzelnen Tode jeweils einer anderen Protagonistin zugedacht und damit den privaten oder politischen Hintergrund des jeweiligen Sterbens herausgearbeitet. Dabei hätte jedoch die notwendige inhaltliche Unterscheidung der einzelnen Personen zu einer epischen Breite geführt, die Jenny Erpenbeck offensichtlich vermeiden wollte. Stattdessen verdichtet sie alle unterschiedlichen Lebensläufe in einer einzigen Person, jedoch mit dem Trick, sie mehrmals einen hypothetischen, aber durchaus realistischen Tod sterben zu lassen. Anschließend lässt sie das Leben der Protagonistin an genau dieser Stelle weitergehen.

Zum ersten Mal stirbt die Hauptperson im Alter von acht Monaten an der Hilflosigkeit ihrer unerfahrenen jungen Eltern, die mit dem Atemstillstand des kleinen Mädchens nicht fertig werden. Der Vater flieht in einer Art dumpfen Protestes nach Amerika, die junge Mutter führt schließlich ein Leben in stiller Ergebenheit als Helferin der Mutter.

Im zweiten Leben zieht die Familie mit ihren nun zwei Töchtern nach Wien, weil der Vater dort bessere Karrierechancen sieht. Der erste Weltkrieg zerstört jedoch alle Träume und endet schließlich in Not und Hunger. Das junge Mädchen sieht die leichte Möglichkeit, durch Prostitution sich und ihre Familie zu ernähren, und gibt der Versuchung nach, Dabei verliert sie jedoch Stück für Stück ihr psychisches Gleichgewicht. Als dann der einzige Mann, den sie wirklich liebt, sie nur zum Ausweinen über den Tod seiner Verlobten braucht, beschließt sie bei einer plötzlich aufkommenden Gelegenheit, aus einem Leben zu gehen, das für sie nur Hunger, Not und sozialen Abstieg bedeutet.

Das dritte Leben der Protagonistin bildet das Zentrum des Romans, auf das das vorangehende Buch hingearbeitet hat. Sie engagiert sich politisch gegen Hunger und Kriegsgewinnler, wird Kommunistin und flieht schließlich Mitte der dreißiger Jahre als Parteimitglied nach Moskau, wo sie sich plötzlich und unerwarteterweise politisch und privat rechtfertigen muss. Es ist die Zeit der Stalinschen Säuberungen, in der selbst die linientreusten Kommunisten für Lächerlichkeiten oder Absurditäten die Freiheit und sogar das Leben verlieren können. Nichts ist mehr sicher, jeder kann abgeholt und erschossen oder verbannt werden, jeden Tag kann es einen erwischen. Viele Freunde und sogar ihr Mann sind bereits verschwunden, und sie schreibt zum wiederholten Mal an einem taktisch umformulierten Lebenslauf, um ihr nacktes Leben zu retten. Doch weder ihr Glaube an den Kommunismus noch der Versuch der Rechtfertigung gelingen. Sie tritt den bitteren Gang ins Arbeitslager an, wo sie an Kälte und Hunger stirbt.

Nach ihrer durch die Autorin bewirkten Wiederauferstehung – irgendein Apparatschik hat ihre Akte auf den richtigen Stapel gelegt – geht sie nach dem Krieg in die DDR und wird dort eine verdiente Künstlerin der Arbeiter- und Bauernklasse. Ihr Tod Anfang der sechziger Jahre ist so banal wie ihre geliebte Republik: sie fällt die Treppe hinunter – ein ironisches Bild?

Auch die Alternative danach spart alle politischen Aspekte aus. Jenny Erpenbeck springt gleich in die neunziger Jahre, die Wiedervereinigung ist vollzogen, aber unsere Heldin bekommt davon dank beginnender Demenz nicht mehr viel mit, jedenfalls will und kann sie sich kein politisches Urteil mehr bilden. Sie stirbt friedlich im Altersheim, und es wird kein weiteres Leben geben.

Man fragt sich natürlich, warum die Autorin die politischen Aspekte weitgehend ausblendet hat außer denen während der kommunistischen Phase. Der Faschismus kommt nur in Zitaten vor, so bei der Erwähnung der Deportation der jüdischen Verwandten der Hauptperson, selbst das k.u.k.-Reich wird nur aus der Perspektive der Not im Ersten Weltkrieg beschrieben.

Man kann diese Frage aus dem Typ der jeweiligen Ideologie beantworten. Der Faschismus ist eine Ideologie des Stärkeren, der sich selbst für das Große und Reine hält und alles Minderwertige auszumerzen trachtet. Der Faschismus strebte nicht eine bessere Welt sondern mehr Macht für eine Elite an. Daher waren sich auch dessen Vertreter im Stillen immer der Tatsache bewusst, dass sie Ideale der restlichen Welt mit Füßen traten. Wer als Nazi selbst Opfer des Terrors wurde, kannte dieses Risiko sozusagen. Man durfte nur nicht auf der falschen Seite stehen.
Der Kommunismus reklamiert in seiner ursprünglichen Form jedoch das Glück für jeden Erdenbürger, auch den Unbedeutendsten. Er verspricht Gleichheit, Gerechtigkeit und immerwährenden Frieden. Seine Anhänger mag man naiv nennen, aber sie glaubten lange Zeit unerschütterlich an dieses Sendungsbewusstsein und machten entweder niedere Chargen für den ungerechten Terror verantwortlich oder glaubten tatsächlich, dass der Geheimdienst der kommunistischen Partei den nur scheinbar treuen Parteianhängern subersive Aktivitäten nachweisen konnte. Im Zweifel galt die Parteilinie mehr als individuelle Emotionen oder familiäre Bindungen. Da musste das Entsetzen um so größer sein, wenn man selbst, angesichts des unbezweifelbaren Wissens um die eigene Unschuld, mit solchen absurden Vorwürfen konfrontiert wurde. Wohl keine Ideologie hat ihren eigenen Anhängern so brutal und kompromisslos den existenziellen Boden unter den Füßen weggerissen wie der Kommunismus unter Stalin, vergleichbar nur der französischen Revolution unter Robbespierre und St. Juste.  

Die familiäre Umgebung der Protagonistin fristet dagegen ein Leben im Ausnahmezustand. In ihrer Jugend herrscht mehr oder minder Hunger und Not, die Beziehungen der Familienmitglieder sind auf das zum Überleben Notwendige reduziert. Später, als Mutter eines unehelichen Sohnes, erzieht „H.“, wie sie im Buch durchweg genannt wird, diesen zwar im Rahmen ihrer mütterlichen Pflichten, doch gibt es weder eine besonders innige Beziehung noch Zerwürfnisse. Auch lässt sie ihn stets im Unklaren über seinen wahren Vater, einen russischen Dissidenten. Es scheint, als hätten die Erfahrungen in ihrer Jugend und in der Sowjetunion ihr die Empathie genommen. Jenny Erpenbeck schildert ihre H. als eine Frau, die es wider Erwarten geschafft hat, zu überleben, und die sich eine große Skepsis gegenüber allen großen Gefühlen zugelegt hat.

Dem entspricht auch der Stil der Autorin: sachlich und faktenbezogen, stets kontrolliert und ohne jegliches Pathos. Über weite Strecken herrscht das Präsens als Zeit der Handlung, aus dem dann über die Vorgeschichte der jeweiligen Situation in verschiedenen Vergangenheitsformen berichtet wird. Das bewirkt eine hohe Dichte der Erzählung.

Die Autorin vermeidet bewusst jegliche politische Anklage und lässt stattdessen die Fakten für sich sprechen. Als Erzählerin tritt sie weitgehend hinter ihre Hauptperson zurück, auch wenn es so scheint, als ob sie mit der Wiederbelebung nach fast jedem erlittenen Tod massiv in das Leben ihrer Heldin eingreift. Doch das ist nur ein dramaturgischer Trick, den Lebenslauf und seine möglichen Entwicklungen dichter zu gestalten.

Jenny Erpenbeck hat mit diesem Roman ein Portrait des letzten Jahrhunderts aus der Perspektive einer einfachen Frau aus kleinen Verhältnissen geschrieben, das sich so oder ähnlich millionenfach abgespielt haben dürfte. Die einzelnen „Todes-Zäsuren“ erlauben dabei noch die partielle Zuordnung zu realen Lebensläufen aus dem Meer der unbekannten Opfer des Jahrhunderts.

Der Roman „Aller Tage Abend“ ist im Knaus-Verlag unter der ISBN 978-3-8135-0369-2 erschienen, umfasst 283 Seiten und kostet 19,99 €.

Frank Raudszus

 

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