Requiem für einen verstorbenen Mentor

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Das Armida-Quartett spielt beim Rheingau-Musik-Festival Werke von Beethoven, Schostakowitsch und Schubert.

Eigentlich war für diesen Sommerabend das Artemis-Quartett eingeladen worden, auf Schloss Johannisberg Streichquartette von Ludwig van Beethoven und anderen Komponisten zu interpretieren. Doch der plötzliche Tod des Bratschisten Friedemann Weigle hatte zwangsläufig die Absage des Auftritts zur Folge. Doch anstatt das Konzerts ganz abzusagen, entschied sich die Festival-Leitung dafür, stattdessen ein anderes Quartett – natürlich mit einem modifizierten Programm – einzuladen. Es sollte jedoch angesichts des traurigen Anlasses nicht ein beliebiges Quartett sein, das dadurch nur eine vermeintlich leichte Ersetzbarkeit des Artemis-Quartetts zum Ausdruck gebracht hätte, sondern eines, dass in enger Beziehung zu ihm stand. Und mit dem Berliner Armida-Quartett war diese Situation tatsächlich gegeben. Es besteht aus vier jungen Leuten – Martin Funda (1. Violine), Johanna Staemmler (2. Violine), Teresa Schwamm (Bratsche) und Peter-Philipp Staemmler (Violoncello) – und wurde vor allem von Friedemann Weigle in seiner musikalischen Entwicklung betreut, gefördert und begleitet. Diese vier jungen Musiker waren sofort bereit, für ihren Mentor und sein Quartett einzuspringen. Die besondere Situation verdeutlichten sie auch dadurch, dass Johanna Staemmler zu Beginn eine kurze Ansprache zum Tode Friedemann Weigles und dessen Wirkung auf das Armida-Quartett hielt.

Martin Funda, Violine Johanna Staemmler, Violine Teresa Schwamm, Viola Peter-Philipp Staemmler, Violoncello

Martin Funda, Violine
Johanna Staemmler, Violine
Teresa Schwamm, Viola
Peter-Philipp Staemmler, Violoncello

Die Werke-Auswahl kann man wohl am besten als eine Art „Requiem“ für Friedemann Weigle bezeichnen. Denn alle drei Streichquartette sind von tiefem Ernst und emotionalem Aufruhr geprägt. Und diese drei Kompositionen spielten die jungen Leute mit einem Ernst und einem geradezu brennenden Engagement, dem man unmittelbar entnehmen konnte, wie sehr sie der Tod des Bratschisten getroffen hat.

Beethovens Streichquartett Nr 11 f-Moll aus dem Jahr 1811 entstand aus verschiedenen schmerzlichen privaten Erfahrungen und war ursprünglich nur für „Kenner“ und nicht für eine öffentliche Aufführung gedacht. Es verzichtet auf die übliche Einteilung von „schnell, langsam, schnell, schnell“ und setzt dafür an zweite Stelle ein Allegretto statt eines Andantes oder Adagios. Auch der dritte Satz besteht nicht aus einem Scherzo oder Menuett sondern aus einem „Allegro assai vivace“, einem Tempo, das meist dem Finalsatz vorbehalten bleibt. Dieser beginnt stattdessen – völlig untypisch – mit einem „Larghetto esspressivo“, das allerdings bald in ein eher beschwingtes Allegro in F-Dur übergeht.

Bereits in diesem mittleren Streichquartett ist die Tendenz Beethovens zu erkennen, auf ausgeprägte und eingängige Melodielinien zugunsten kurzer und vielfältig verarbeiteter Motive zu verzichten. Die noch in der Frühklassik – Haydn, Mozart – vorherrschende liedhafte Form löst sich in Einzelbestandteile auf, die den ungeordneten und zerrissenen Seelenzustand eines emotional bewegten Menschen widerspiegeln. Denn die durchgängigen, „schön“ variierten Melodien eines frühklassischen Streichquartetts legen im Grunde genommen eine Tüncheschicht des Schönen und Wohlgefälligen über eine leidvolle Realität. Zwar bewegt sich Beethoven noch weitgehend im Rahmen der damals gültigen Harmonik, doch spielen Reibungsklänge und scharfe Rhythmen eine wesentlich größere Rolle, um die seelische Befindlichkeit auszudrücken.

Die vier jungen Musiker interpretierten dieses Streichquartett mit Inbrunst und höchster Aufmerksamkeit. Immer wieder konnte man feststellen, wie sie sich gegenseitig Blicke zuwarfen, um Einsätze oder dynamische Wechsel aufeinander abzustimmen. Vor allem die dynamischen und motivischen Brüche in Beethovens Musik brachten sie kompromisslos und mit der gebotenen Schärfe zum Ausdruck.

Das nächste Stück führte über hundert Jahre weiter. Dmitri Schostakowitschs Streichquartett Nr. 10 in As-Dur entstand im Jahr 1964 und ähnelt doch Beethovens Stück in Vielem. Natürlich ist die Harmonik wesentlich weiter fortgeschritten und zeigt jetzt die schwebende Charakteristik moderner Musik mit ihren „akkordfremden“ Tönen, die noch Beethoven höchstens als durchlaufende Noten ihre Berechtigung gehabt hätten. Hier verleihen diese zusätzlichen Töne der Musik eine distanzierte, kühle Aura. Doch auch Schostakowitsch lässt die Rhythmik sprechen. Im „Allegretto furioso“ des zweiten Satzes dominiert ein synkopischer Grundrhythmus, der lange Zeit vom Cello als Unterlage gespielt wird und dann auch auf die anderen Instrumente übergeht. Das „Adagio“ des dritten Satzes klingt zwar fein ziseliert, jedoch nie lyrisch im gewohnten Sinne. Dazu distanziert sich diese Musik zu deutlich von den üblichen Emotionen. Man kann dies auch so verstehen, dass Schostakowitsch – wie andere Komponisten seiner Epoche – nach den Schrecken des frühen 20. Jahrhunderts den üblichen Emotionen misstraut und sich lieber in eine Klangwelt ohne vordergründigen Identifikationscharakter zurückzieht. Man muss sich auf diese Musik erst einlassen, um ihre Stärken und vor allem ihre Wucht zu verstehen. Auch dieses Streichquartett verzichtet auf heitere Aspekte und bringt die dunklen Seiten des Lebens zum Vorschein. Dazu nutzt Schostakowitsch alle Techniken der Streichinstrumente wie Pizzicati oder seltsam flirrende Klänge, die man so von Streichinstrumenten nicht kennt. Ein vorwärts drängender Grundrhythmus prägt das Stück über weite Strecken, gibt den Klangraum zwischendurch frei für andere Farben und Metriken, um dann jedoch in wechselnder Instrumentierung wiederzukehren.

Auch dieses Werk interpretierten die vier Musiker mit hoher Präzision und Präsenz und hielten den Spannungsbogen bis zum letzten Ton aufrecht. Man merkte ihnen an, dass sie diese Musik durchdrungen und verinnerlicht hatten. Und sie passte in ihren dunklen Färbungen genau in das Konzept eines Gedenkkonzerts für den verstorbenen Friedemann Weigle.

Dieses Konzept fand seinen Höhepunkt in Franz Schuberts letztem Streichqaurtett Nr. 15 op. 161 (D 887) in G-Dur aus dem Jahr 1826, zwei Jahre vor seinem Tod komponiert. Man mag darüber streiten, ob es so etwas wie konkrete Todesahnungen gibt, die sich dann bei Künstlern in deren Werken niederschlagen. Man weiß jedoch, dass Schubert in seinen letzten Lebensjahren an einer venerischen Krankheit litt, die damals noch unheilbar war. Es liegt nahe, das sein Wissen um dieses Leiden ihn in seinem künstlerischen Schaffen stark beeinflusst hat. An seinem letzten Streichquartett kann man diesen seelischen Zustand deutlich erkennen. Schon die ersten Takte sind geprägt von einer existenziellen Verunsicherung, die keine optimistischen musikalischen Motive mehr erlaubt. Verzweiflung, Resignation und Auflehnung im Wechsel schlagen sich in expressiven Figuren, wiederholten Wechseln zwischen Dur und Moll, abrupten dynamischen Brüchen und synkopischen Rhythmen nieder. Der langsame Satz, ein Andante, hat nichts Lyrisches oder gar Gefühlvolles zu bieten sondern nur Trostlosigkeit und Klage, aber auf höchstem musikalischen Niveau. Dem schließt sich unmittelbar ein geradezu aggressiv zu nennendes Scherzo an, das ebenfalls nichts von dem „Scherzhaften“ dieser Musikgattung an sich hat, sondern eher höllische Verzweiflung ausdrückt. Im Finalsatz ist neben ähnlichen Elementen wie im ersten Satz zum ersten Mal so etwas wie eine eingängige Melodie zu erkennen, die jedoch immer wieder durch harte Akkorde abgebrochen wird. Fast scheint es, als wolle Schubert mit diesem Thema noch einmal an seine Vorstellungen eines gelungenen Lebens erinnern, um dann aber sofort diese Sehnsucht durch harte motivische und dynamische Brüche zu zerstören. Auch hier wechseln sich Dur und Moll in schneller Folge ab, und das bewegte Grundtempo dieses Satzes steht nicht für Optimismus und Lebensfreude sondern für die hektische Betriebsamkeit einer das Ende ahnenden Seele.

In diesem Stück liefen die vier Musiker(innen) noch einmal zu Höchstform auf und legten neben ihrer musikalischen Professionalität ihre persönliche Betroffenheit über den Tod des Mentors in ihr Spiel. Und dieses Einbringen persönlicher Bewegtheit fügte der Aufführung eine ganz eigene Qualität hinzu, die man nicht unbedingt an jedem Konzertabend erfährt. Das war auch deutlich an dem Publikum zu erkennen, dass der Interpretation in gepannter Stille und ohne jegliche Huster folgte, gebannt von dem aufwühlenden Spiel des Quartetts.

Nach den letzten Klängen brach dann begeisterter Beifall aus, der die vier Musiker immer wieder auf die Bühne holte, bis sie schließlich als Zugabe noch den „Kontrapunkt 4“ aus Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ spielten, auch dieses Stück mit hoher Konzentration und Präzision. Und zu dem Grundtenor dieses Konzerts passte auch die formale Strenge der Bachschen Musik.

Frank Raudszus

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