Weibliche Zeitreise durch eine Männerwelt

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Das Staatstheater Darmstadt bringt Virginia Woolfs Roman „Orlando“ als Schauspiel auf die Bühne.

Die britische Schriiftstellerin Virginia Woolf (1882 -1941) kann man getrost auf eine Stufe stellen mit Zeitgenossen wie James Joyce. Wie dieser hat sie formal die Erzähltechnik des „Bewusstseinsstroms“ perfektioniert und inhaltlich ihre Zeit und die englische Gesellschaft aufs kritische Korn genommen. Der Kampf gegen die systematische Diskriminierung der Frauen durch die viktorianische Gesellschaft – hier vor allem der Künstlerinnen, sprich Schriftstellerin – prägt die meisten ihrer Essays und Romane. Doch ihr Eintreten für die Rechte der Frauen ging darüber hinaus und äußerte sich auch in einer deutlichen Bisexualität, die in einigen Fällen wohl auch in Homosexualität umschlug. Diesen Aspekt ihres Lebens musste sie natürlich lange Jahre vor der Öffentlichkeit verstecken – siehe Oscar Wilde. Die Schriftstellerin und Diplomatenfrau Vita Sackville-West war eine der Frauen, die Virginia Woolf wegen ihres freiheitlichen und unangepassten Lebensstils nicht nur bewunderte sondern wohl auch liebte. Nach einer gemeinsamen Europareise mit Vita im Jahr 1927 schrieb sie den Roman „Orlando“ wie eine Liebeserklärung an ihre Freundin als „Gelegenheitswerk“ zwischen anderen Romanprojekten in einem Stück herunter.

Nicolas Fethi Türksever, Hubert Schlemmer und Katharina Susewind

Nicolas Fethi Türksever, Hubert Schlemmer und Katharina Susewind

In diesem Roman geht es um die Figur des jungen Dichters Orlando, der in elisabethanischer Zeit aufwächst und wegen seiner poetischen Begeisterungsfähigkeit und seines geradezu naiven Selbstbewusstseins die Liebe wichtiger Frauen gewinnt, bei Elisabeth I. angefangen, die ihm großzügig einen Landsitz schenkt. Doch die geheimnisvolle russische Gräfin Sasha entzieht sich ihm. Orlando wandert durch Europa und die Jahrhunderte, altert nicht und übersteht verschiedene gefährliche Abenteuer. Unter anderem landet er in Konstantinopel und erwacht dort eines Morgens als Frau. Zurück in England, erlebt Orlando als weibliche Schriftstellerin die Engstirnigkeit und Unterdrückung der Frau im viktorianischen Zeitalter und muss sich persönlich mit der Missachtung ihrer Umgebung auseinandersetzen. Sie heiratet zwar einen englischen Kapitän, doch bleibt innerlich eine unabhängige Person, d. h. metaphorisch ein „Mann“.

Virginia Woolfs Roman ist ein typischer Schelmenroman, in dem sich ein Individuum gegen alle Widerstände und Abwertungen behauptet, jedoch nicht im Sinne eines Kampfes um die Vorherrschaft, sondern indem es die Schwächen und moralischen Mängel einer Gesellschaft entlarvt. Ähnlich wie Grimmelshausens Simplicissimus wird auch Orlando mal hofiert, mal gebeutelt und wird sowohl Zeuge als auch Opfer unterschiedlicher Diskriminierungen, gehört jedoch nie zu eben dieser Gesellschaft, sondern bewahrt eine fast schon ironisch zu nennende Distanz zu ihr. Und wie der besagte Simplex begegnet auch Orlando dieser Welt mit Charme und Chuzpe.

Jana Zöll als Schriftstellerin

Jana Zöll als Schriftstellerin

Die britische Regisseurin Lily Sykes hat diesen „Gender“-Roman als metaphorisches Spiel archetypischer Figuren auf die Bühne gebracht. Bühnenmeister André Lange hat ihr dazu ein Bühnenbild geschaffen, das im wesentlichen aus einem die Bühne füllenden, symmetrischen Gerüst aus transparenten Treppen und Galerien besteht. Dieses Gerüst stellt mal Orlandos weitläufigen Landsitz in England, mal den Palast der englischen Königin oder auch ein Schiff dar. Die jeweilige Bedeutung erhält es ohne große bauliche Zusätze hauptsächlich aus dem Kontext des Geschehens und den Worten der Protagonisten. Hin und wieder ergänzen Schwaden von Disconebel das metaphorische Ambiente. Die Kostüme von Silke Ehrhard orientieren sich ansatzweise an den durchwanderten Jahrhunderten, wobei vor allem der breit ausladende Reifrock als Zeichen für die zur Bewegungslosigkeit verdammten Frauen eine zentrale Rolle spielt.

Dramaturgisch hat Lily Sykes eine Meta-Ebene eingezogen. An der Bühnenrampe sieht man die Schriftstellerin (Jana Zöll) im Sessel sitzen und hört ihre scharfzüngige Kommentare über die Ereignisse ihres eigenen Romanes. Man kann es jedoch auch als den Entstehungsprozess des Romans begreifen, der in ihrem Kopf Gestalt einnimmt, während die Hausangestellte sie dauernd mit Fragen zum Alltagsablauf nervt. Daraus ergibt sich ein ambivalentes Bild einer egozentrischen, psychisch labilen Intellektuellen, die aber im nächsten Augenblick zur hoch sensiblen, unter den Banalitäten der Realität leidenden Seherin mutiert. Man kann sich sehr gut mal in ihre, mal in die Rolle ihrer Mitmenschen versetzen, und beide Perspektiven sind stimmig. Hinter diesem Vordergrund der „Jetztzeit“ – als der Roman entstand – spielen sich die Ereignisse und Erlebnisse des Romans ab. Die zusätzliche Autoren-Ebene lässt das Fiktive, immer Vorläufige und Vage der Weltinterpretation zu Tage treten. Virginia Woolf sieht die Welt aus ihrer Perspektive, die nicht unbedingt stets von logischer Stringenz geprägt ist. Verletzungen, Unsicherheiten und psychischer Stress können eine Situation im Handumdrehen in ihr Gegenteil verkehren. Die Ereignisse des Romans verharren dadurch in der Möglichkeitsform und bestätigen dadurch Virginia Woolfs Feststellung, dass „wir alle wissen, was wir sind, aber nicht, was wir hätten sein können“. Damit wird der Roman zu einem Schmelztiegel der Möglichkeiten und Alternativen, und nicht zuletzt deshalb lässt die Autorin ihren Protagonisten durch die Jahrhunderte geistern und sowohl Ort als auch gesellschaftlichen Status und sogar das Geschlecht ändern. Nichts ist so, wie es scheint, und nichts muss so sein, wie es ist. Die Welt als unausgeschöpfte Fülle der Möglichkeiten.

Katharina Suswind und Jana Zöll

Katharina Suswind und Jana Zöll

Der metaphorisch ausschweifende Charakter des Romans birgt für eine Bühnenfassung die Gefahr von Längen in sich, und Lily Sykes Inszenierung kann dieser Gefahr nicht ganz entgehen. Vor allem im zweiten Teil wiederholen sich Bilder und Strukturen mit einem gewissen Ermüdungseffekt. Dennoch schafft sie es über lange Strecken durch zwingende Bilder und viel Wort- und Situationswitz, die Spannung aufrecht zu erhalten. Dabei ensteht eine märchenhafte Atmosphäre voller eindringlicher Bilder, die bewusst auf packende Handlungsstränge zugunsten der metaphorischen Wirkung verzichtet. In diesen Augenblicken fühlt man sich tatsächlich in eine Welt außerhalb der alltäglichen Sachzwänge und mit den Möglichkeiten individueller Existenz und Selbstverwirklichung entführt; aber auch in eine Welt voller Unsicherheiten und Fragezeichen.

Bühnenbild mit Statisterie

Bühnenbild mit Statisterie

Katharina Susewind zeigt in der sich dauernd wandelnden Rolle des bzw. der Orlando ihre darstellerische Vielfalt vom naiven Jungdichter der elisabethanischen Epoche bis zur emanzipierten und kämpferischen Frau des 20. Jahrhunderts. Ihre Darstellung dieser Rolle hält die oftmals weit ins Bildhaft-Allegorische ausschweifende Inszenierung zusammen und verleiht ihr letztlich die Linie. Die anderen Darsteller sind mit intensiven Rollenwechseln beschäftigt, die bewusst nur Karikaturen und Stereotypen liefern, unter anderem Hubert Schlemmer als exzentrisch-besitzergreifende Elisabeth I.  und dünkelhaft-hölzerner Erzherzog Harry oder Gabriele Drechsel in verschiedenen viktorianischen und allegorischen Rollen. Stefan Schuster und Nicolas Fethi Türksever müssen sich in schnellen Wechseln mit vier bzw. fünf Rollen herumschlagen, was nur mit einer scharfen Typentrennung und Überzeichnung zu bewältigen ist. Diese Typisierung kommt jedoch der Schelmenstruktur und dem inhärenten Slapstick-Charakter des Stücks entgegen und sorgt für Bewegung und Witz auf der Bühne. Ein Chor der Statisterie des Staatstheaters ergänzt diesen Reigen grotesker Figuren mit moralischen und gesellschaftspolitischen Kommentaren aus den jeweiligen Epochen und verleiht der Inszenierung punktuell den Charakter antiker griechischer Dramen.

Das Publikum erlebt ein nahezu dreistündiges Kaleidoskop aus Karikaturen, Kostümen, Klassikern und auch Kalauern, das eine farbenreiche Palette historischer und literarischer Assoziationen und über weite Strecken auch gute Unterhaltung bietet. Bisweilen fühlt sich der Zuschauer im Gewirr der Anspielungen und Wandlungen ein wenig verwirrt, doch am Ende hat sich dieses Experiment mit dem „Liebesroman“ einer streitbaren Frau des frühen 20. Jahrhunderts gelohnt.

Das Premierenpublikum dankte allen Beteiligten mit kräftigem, lang anhaltenden Beifall.

Frank Raudszus

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2 Responses to Weibliche Zeitreise durch eine Männerwelt

  1. maria 08/06/2017 at 6:46 pm #

    Ihre Information zu Bühnen und Kostümbild ist ganz falsch:
    Leitungsteam: findet man auf der Homepage des Theaters

    Regie
    Lily Sykes

    Bühne
    Jelena Nagorni

    Kostüme
    Ines Koehler

    • frankraudszus 11/06/2017 at 9:52 pm #

      Liebe Maria,

      wie kommen Sie darauf, dass die Information falsch ist – und vor allem erst jetzt? Die Aufführung fand vor einem Jahr statt, und ich habe die Unterlagen davon natürlich nicht mehr zur Hand. Ich habe die Angaben dem Programmheft entnommen. Sie müssten mir also Beweise für eine fehlerhafte Angabe liefern.

      Viele Grüße

      Frank Raudszus

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