Thilo Sarrazin: „Wunschdenken“

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Eine vergleichende Analyse guter und schlechter Regierungsarbeit.

In der Bestseller-Liste des „Spiegel“ Nr. 21 vom 21.5.2016 liegt das hier besprochene Buch an zweiter Stelle nach dem Buch des Rappers Shindy und vor Peter Wohllebens „Das geheime Leben der Bäume“. An vierter Stelle liegt die von einem Autoren-Kollektiv kritisch editierte Ausgabe von Hitlers „Mein Kampf“. Diese Konstellation nutzt der Spiegel im redaktionellen Teil (Seite 114) zu der Glosse „Jetzt echt: Deutschland schafft sich ab“ mit dem Untertitel „Die Autobiografie des Rappers Shindy schlägt Hitler und Sarrazin“. Diese faktisch richtige und scheinbar harmlose Feststellung ist jedoch von subtiler Perfidie. Sachlich näher läge der Untertitel „Die Autobiografie des Rappers Shindy schlägt Sarrazin und Wohlleben“, das wäre aber erstens weniger spektakulär gewesen und hätte nicht die Möglichkeit genutzt, Sarrazin in unmittelbare Nähe von Hitler zu rücken……

1607_wunschdenkenSoviel zur Rezeption von Thilo Sarrazins neuem Buch, über das man – wie schon bei seinem letzten Buch „Der neue Tugendterror“ – in der maßgeblichen Presse keine Rezensionen liest, geradezu, als existiere das Buch überhaupt nicht. Es will uns scheinen, als habe der „Mainstream“ der ernst zu nehmenden Presse beschlossen, diesen Autor grundsätzlich zu ignorieren oder höchstens mit kurzen, ironischen Kommentaren zu streifen, was immer er auch schreiben mag. Zeigt diese Reaktion , dass Sarrazin mit seinen Ausführungen in „Tugendterror“ zum angeblichen Meinungsdiktat in Deutschland vielleicht Recht hat?

Wie dem auch sei, Sarrazin bietet in seinem neuen Buch wenig Angriffspunkte für Polemik, ja, er bemüht sich fast auffällig um eine nüchterne Diktion, ohne deshalb mit seiner Meinung hinter dem Berg zu halten. Seine Thesen formuliert er eher allgemein und unterlegt sie mit wenigen, aber markanten Beispielen, die er gerne aus der Historie nimmt. Analogieschlüsse zur aktuellen politischen Situation überlässt er dabei weitgehend dem Leser.

Seinen grundsätzlichen Überlegungen zu „guter Regierungsführung“ stellt er einen Überblick über die Frage voran, warum verschiedene Gesellschaften unterschiedliche „Karrieren“ aufweisen. Dabei verweist er auf den Einfluss von Klima und Geografie, Religion, Kultur und auch auf die Aspekte von Freiheit und Sicherheit. Die Bedeutung dieser Einflussgrößen bemisst er nicht nur nach seinen eigenen Überlegungen, sondern zitiert eine Reihe namhafter Autoren und Institutionen.

Anschließend widmet er sich den Träumen zur Weltverbesserung, den alle Epochen kennen. Ausführlich zitiert er antike Utopien, wobei Platon aus nachvollziehbaren Gründen – sein Idealstaat war elitär und autoritär – gar nicht gut wegkommt, kommt dann zu modernen Utopien wie den Kommunismus und den Islamismus und landet bei der „offenen Gesellschaft“, die für ihn Grundlage auch und vor allem des materiellen Wohlstands ist. Dem „freien“ Markt bescheinigt er trotz aller offensichtlichen gegenwärtigen Schwächen das größte Potential für Frieden und Wohlstand.

Dem Kern seines Buches nähert er sich in dem Kapitel über „Gegenstand, Regeln und Prinzipien guten Regierens“. Eine selbst erstellte Liste von Regierungsregeln enthält zum Beispiel „Unabhängigkeit vom Zeitgeist“, „langfristiges Denken“, „Machtbewusstsein“, aber auch „risiko-averses Denken“, da Risikofreudigkeit im hoch komplexen politischen Verbund unübersehbare Folgen haben kann. Man kennt dieses Problem von militärischen Abenteurern. Direkt daraus leitet er Prinzipien guter Regierungen ab, zu denen für ihn die Herrschaft des Gesetzes, das Eigentumsrecht, die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung einschließlich  Vertragsfreiheit sowie die Meinungs- und Religionsfreiheit gehören. Schon hier sieht man zwischen den Zeilen seine Kritik an der zunehmenden Regulierung im europäischen und speziell deutschen Raum durchschimmern. Bürokratie, die er durchaus nicht modisch-polemisch verdammt, und Effizienz des Staates spielen für ihn eine ebenso große Rolle, und letztere darf nicht aus tagespolitischen oder gar wahltaktischen Gründen unterminiert werden. Dafür führt er des Öfteren Beispiele aus seiner eigenen Zeit in verschiedenen Positionen an, bei denen er sich selbst zwar politische Feinde gemacht hat, aber auch für nachweisbare Effizienzverbesserung gesorgt hat. In fast jedem Fall strebten andere politische Kräfte aus kurzfristigen Gründen eine Verwässerung finanzieller oder anderer Effizienz an.

Ausgehend von diesen Voraussetzungen und seinen Erfahrungen entwickelt Sarrazin dann eine Liste typischer politischer Fehler, die – fast zwangsläufig – in der angegebenen Reihenfolge auftreten. Am Anfang steht stets ungenügendes Wissen oder gar bewusste(?) Täuschungen über die Wirklichkeit, die zu Bagatellisierung von Problemen und vermeintlich einfachen, für niemand schädlichen Lösungen führen. Wenn dann die Probleme – naturgemäß – zunehmen, wird das eigene Handlungsgpotential überschätzt, frei nach dem Motto „Wir schaffen das“ (obwohl er diesen Satz hier bewusst nicht zitiert). Die nächste Eskalationsstufe nimmt dann bewusst Kollateralschäden in Kauf, die bei klugen Entscheidungen gar nicht aufgetreten wären. Dem Leser drängen sich hier geradezu die Folgeschäden der Draghischen Nullzinspolitik auf, obwohl Sarrazin auf einen entsprechenden billigen Seitenhieb verzichtet. Das ganze spitzt sich zu Egoismus und Betrug zu, bei dem man den Regierten bewusst die Wahrheit vorenthält oder gar bewusst lügt, um die eigene Politiksicht durchzusetzen. Am Ende landet der Politiker beim Selbstbetrug, das heißt, er hält seine taktischen Argumentation für die Wahrheit. Extremes Beispiel – das Sarrazin natürlich nicht erwähnt – war Hitler, der bis zum Schluss an die Wunderwaffen und den Endsieg glaubte. Hätte Sarrazin dieses Beispiel in einem Buch über aktuelle Politik eingebracht, hätte ihm das mit Sicherheit empörte Kommentare über eine vermeintliche Gleichsetzung mit dem Dritten Reich eingebracht.

Diesen typischen Ablauf zeichnet er anschließend an Hand von aktuellen Beispielen nach: der Währungspolitik (Euro), der Bildungspolitik in Deutschland, der Migration, der Energiepolitik und der Gerechtigkeitsfrage. In der Währungsfrage zeigt er deutlich, wie das Festhalten an dem ursprünglichen Fehler, die einheitliche Euro-Währung ohne eine politische Union einzuführen, zu immer weiter eskalierenden Problemen – sieh Griechenland, Spanien, Italien – führt. Bei der Bildung bemängelt er die Nivellierungsideologie, die Unterschiede der Begabung ignoriert und die katastrophalen Folgen einer egalitären Bildungspolitik – siehe Berlin oder Nordrhein-Westfalen – einfach ausblendet oder gar unterdrückt. Auf die Migration geht er sehr detailliert ein und vergleicht die deutsche Politik der „Willkommenskultur“ alias „offene Tür“ mit den strengen Regeln von Einwanderungsgesellschaften wie Kanada oder Australien. Ganz ohne Polemik weist er nach, dass eine Gesellschaft von Migration nur profitiert, wenn die durchschnittliche „kognitive Kompetenz“ der Migranten gleich oder größer als der heimische Durchschnitt ist. Wenn massenhaft Migranten mit geringerer Kompetenz einreisen, dann wirkt sich das mittelfristig zwangsläufig auf den Wohlstand des Landes aus, der ja gerade die Migranten anzieht. In diesem Zusammenhang weist er nach, dass die nach Deutschland einreisenden Migranten der letzten Jahren überwiegend aus Ländern geringer kognitiver Kompetenz stammen. Wer die statistischen Zahlen zu lesen versteht, und Sarrazin präsentiert sie einfach und unverfälscht, sieht, dass hier erhebliche Probleme auf die deutsche Gesellschaft zukommen. Doch politisch folgen die maßgeblichen Stellen dem von ihm aufgestellten Ablaufmuster von Realitätsausblendung bis zum Selbstbetrug. Man kennt dies von vielen Beispielen in der Presse, die anhand einzelner Beispiel suggerieren, dass alle syrischen Migranten Akademiker seien oder dass hauptsächlich Familien mit kleinen Kindern an den Grenzzäunen stehen.

Bei der Klimapolitik weist Sarrazin nach, dass Deutschland heute weltweit 2% zum CO2-Ausstoß beiträgt, also eine Verringerung um 50% weltweit überhaupt keine Rolle spielt, dass aber gleichzeitig der vollständige Verzicht auf Atomkraftwerke (aus anderen Gründen) die Effizienz der Energiewende vernichtet, da stattdessen Braunkohle zum Einsatz kommt. Auch hier werden einfache logische Zusammenhänge und Realitäten zugunsten einer einmal eingeschlagenen „ideologischen“ Route ausgeblendet oder gar geleugnet.

Die Gerechtigkeit ist ein weiteres Thema, das für Sarrazin nach diesem Muster diskutiert wird. Aus populistischen Gründen wird Gerechtigkeit gerne mit (materieller) Gleichheit gleichgesetzt, was bis hin zur Diskriminierung von Leistung oder unterschiedlicher Begabung führen kann. Dieser Punkt stellt für ihn derzeit zwar kein dringendes Problem dar, bestimmt aber immer wieder den Diskurs vor allem linker Gruppierungen. Aus wahltaktischen Gründen neigt die Regierung auch hier immer wieder zu Entscheidungen, die nicht den Realitäten sondern vermeintliche Tendenzen  der „Volksmeinung“ Rechnung tragen.

Nach dieser erstaunlich sachlichen Abrechnung mit der gegenwärtigen politischen Situation bringt der Autor seine eigenen Vorstellungen und Wünsche über deutsche Politik gegenüber Migranten, anderen Ländern (Europas) und der EU zum Ausdruck. Bei der Migration hält er ganz nüchtern die Tatsache fest, dass angesichts der Menge weltweit unzufriedener Menschen es für Deutschland unmöglich sei, alle Einwanderungswünsche zu erfüllen. Schließlich sind nach der derzeitigen Gesetzeslage etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung asylberechtigt. Die Fluchtursachen müssen daher in den Ländern selbst bekämpft werden, wobei Sarrazin ehrlich zugibt, dass er dafür derzeit auch kein Rezept hat. Für Sarrazin kann eine Nation (oder Gesellschaft) nur existieren, wenn sie ihr Territorium im wahrsten Sinne des Wortes „im Griff“ hat. Schrankenlose Einwanderung führt letztlich genau zu dem Kollaps, dem die Migranten in ihren Ländern entfliehen wollen. Dabei stellt Sarrazin auch die provokante Frage, warum junge, kräftige Männer aus Syrien und dem Irak hier Asyl erhalten sollen, während Soldaten anderer Nationen, u. U. gar der aufnehmenden Staaten, gegen die dortigen Feinde unter Einsatz ihres Lebens kämpfen sollen.

Auch die Integration spielt für Sarrazin eine große Rolle. Er sieht deutlich, dass Massenabschiebungen auch illegal eingereister Migranten aus verschiedenen Gründen illusorisch sind. Daher gelte es, dass Begabungspotential optimal zu nutzen, aber auch von den Migranten entsprechende Anstrengungen zu fordern. Die Abschiebung dürfe nicht als unmenschliches Verfahren diskreditiert werden,  sondern ihre Möglichkeit müsse als drohende Alternative bei mangelndem Integrationswillen bestehen bleiben.

In einem eigenen Anhang vor den Anmerkungen und Literaturverweisen stellt  Sarrazin noch einige Überlegungen zur Politik und verschiedenen gesellschaftlichen Lebensbereichen wie Moral, Philosophie,Religion, Freiheit und Utopie an. Daraus ergeben sich kurze Essays mit durchaus treffenden und erfahrungsgesättigten Erkenntnissen, die jedoch mehr aus dem Erfahrungshorizont eines wachen politischen Geistes als aus den Überlegungen eines Elfenbeiturm-Philosophen stammen. Gerade deshalb sind sie lesenswert, ob man mit ihnen übereinstimmt oder nicht.

Das Buch „Wunschdenken“ ist in der Deutschen Verlagsanstalt (dva) erschienen, umfasst 571 Seiten und kostet 24,99 Euro.

Frank Raudszus

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