Ein magischer Abend der Klaviermusik

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Beim Rheingau-Musik-Festival erzählt Grigorij Sokolov Geschichten mit Schumanns und Chopins Klaviermusik.

Das Rheingau-Musik-Festival verfügt über verschiedene reizvolle und akustisch hochwertige Konzertsäle. Doch wenn der russische Pianist Grigorij Sokolov auftritt, ist der größte Saal gerade richtig und auch ausverkauft. An diesem Juliabend war kaum einer der 1.350 Plätze mehr frei, als Michael Herrmann einen der größten Pianisten der Gegenwart ankündigte.

Dieser ließ sich dann auch so viel Zeit mit seinem Auftritt, dass bereits einige Zuhörer ungeduldig klatschten. Doch Sokolov legt grundsätzlich eine Pause zwischen der Ankündigung und seinem Auftritt ein, einerseits sicher, um die Spannung zu steigern, andererseits auch, um dem Publikum die Gelegenheit zu geben, sich zu sammeln und auf den pianistischen Vortrag vorzubereiten. Wie man an der Reaktion des Publikums sah, funktioniert das in Zeiten der getakteten Tagesabläufe und der großen Effizienzjagd nicht in dem gewünschten Maße. Doch als Sokolov dann endlich erschien, brandete der Beifall der Vorfreude auf, denn das sachkundige Publikum weiß die Bedeutung eines Sokolov-Konzertes zu schätzen.

Grigory Sokolov im Friedrich-von-Thiersch-Saal im Kurhaus Wiesbaden

Grigory Sokolov im Friedrich-von-Thiersch-Saal im Kurhaus Wiesbaden

Das Programm führte zwei Komponisten zusammen, die – so paradox es klingt – unterschiedlicher und ähnlicher zugleich nicht sein könnten. Der introvertierte Schumann schrieb zwar für das Klavier, musste die eigene Pianistenkarriere jedoch schon früh wegen eines Handleidens aufgeben. Er ließ seine zweite Leidenschaft, die Poesie, in seine Musik einfließen. Zeit seines Lebens fühlte er sich hin- und hergerissen zwischen melancholischen Anwandlungen und Ausbrüchen der Euphorie und personifizierte diese beiden Pole seines Charakters in den fiktiven Gestalten „Eusebius“ und „Florestan“. Chopin dagegen war ein Bühnenstar des Pianos, liebte die Öffentlichkeit und spielte nur eigene Werke. Über Schumanns Begeisterung für ihn war er eher belustigt.

Schumanns Musik bewegt sich oft in emotionalen Abgründen, suchend, zweifelnd und bisweilen schwermütig. Das durchgehende Thema, die Melodie, die einer geschlossenen Idee folgt und einem bewusst gestalteten Ende zustrebt, ist seine Sache nicht. Ihm ging es stets um den musikalischen Ausdruck emotionaler Befindlichkeiten. Vor allem in seiner Kammermusik geht er eher in die Tiefe, folgt kleinsten emotionalen Schwingungen und Schwankungen, um mit Hilfe der Musik auf den Grund seines – und des menschlichen – Wesens zu gelangen. Chopin dagegen liebt die gelungene Melodie, das ausgearbeitete Thema, das einer Linie bis zum Schluss folgt und gerade durch seine konsequente Durchführung sozusagen ein emotionales Erfolgserlebnis vermittelt. Seine Musik ist – trotz mancher Abgründe – immer auf ein stimmiges Ende und ein konsistentes Gesamtgebilde ausgelegt.

Beide Komponisten verfügten über die Gabe, die unterschiedlichsten Gefühlslandschaften zu beschreiben oder zu erzeugen, doch mit orthogonalen oder – anders ausgedrückt – komplementären Mitteln.

Sokolov begann mit Schumanns „Arabeske C-Dur, op 18. Das nur sechsminütige Stück besteht aus einem tänzerisch-springenden Hauptthema und zwei Seitenthemen. Es scheint nur auf den ersten Blick leicht und unbeschwert, doch besonders im mittleren Teil kommen auch andere, dunklere Gefühlslagen zum Ausdruck. Sokolov betonte bei seiner Interpretation die dunklen Seiten, indem er die tiefen Lagen hervorhob und die hohen eher verhalten spielte. Zu Beginn konnte man fast meinen, der Flügel habe ein Problem mit den hohen Tönen, so tief und abgründig wirkte Sokolovs Spiel. Erst nach nach und nach erwies sich das als bewusste Interpretation, denn in den folgenden Stücken nutzte Sokolov auch die hohen Lagen in vollem Umfang.

RMF 2016: Grigory Sokolov im Friedrich-von-Thiersch-Saal im KurhSchumanns Fantasie C-Dur, op 17, übrigens der unmittelbare Vorgänger der „Arabeske“, überschreitet dagegen mit seiner Dreisätzigkeit bereits die Dauer von einer halben Stunde. Es beginnt mit einem emphatischen Thema in der rechten Hand, begleitet von schnellen Läufen in der linken. Dann geht Schumann auf eine musikalische Entdeckungsreise, reiht immer neue Motive aneinander, ohne weiter an die klassische Durchführung im Sinne der klassischen Sonatenform zu denken. Mit der harmonischen und instrumentalen Ausgestaltung dieser Motive schafft er immer neue emotionale Welten und führt seine Zuhörer durch ein Wechselbad menschlicher Befindlichkeiten. Dabei nutzt er die gesamte Ausdrucksbreite des Klaviers und die Möglichkeiten beider Hände eines Pianisten. Sokolov spielte dieses Werk nicht, er interpretierte es auch nicht, er lebte es auf dem Klavier nach. Dabei erzählte er dem Publikum eine große Geschichte über die Seele eines Künstlers, hier Schumanns. Ritardandi, Pausen, dynamische Wechsel und feinste Abstufungen des Anschlags schufen ein fast monumental zu nennendes Werk, dessen Eindruck sich das Publikum nicht entziehen konnte. Wie gebannt saßen die Zuhörer auf ihren Plätzen und ließen diese weit ausholende Fantasie über die Gefühlswelt des Komponisten an sich vorüberziehen. Sokolov modellierte jeden einzelnen Ton und jeden einzelnen Klang mit bestechender Deutungskraft und ließ dieses Werk damit als bewegendes Selbstzeugnis Schumanns lebendig werden.

Vom Publikum bereits zur Pause mit starkem Beifall verabschiedet, leitete Sokolov den zweiten Teil, der Frédéric Chopin gewidmet war, mit den beiden Nocturnes op. 32 in H-Dur und As-Dur ein. Dem ersten mit seinem wehmütigen Auftakt verlieh er durch wohl dosierte Verzögerungen eine Geste der Entsagung, das zweite, ein „Lento“ in As-Dur, intonierte er als nachdenklich-verhaltenes Lied ohne Worte. Eine gewisse – gewollte – Parallele zu Schumanns „Arabeske“ war nicht zu übersehen, wenn auch Chopins Musik sich in Struktur und Aussage deutlich von Schumanns Pendant unterscheidet. Gemeinsam aber ist beiden die sorgfältige Ausformung der vermeintlich kleinen Form.

Am Schluss des Abends stand dann die große Sonate Nr. 2 in b-Moll, die weiteren Kreisen nicht zuletzt durch den „Marche funèbre“ bekannt ist. Der erste, über sieben Minuten währende Satz beginnt mit schweren Akkorden und geht dann in eine wilde Jagd von Läufen und Akkorden über, die erst langsam dem bekannten auf- und absteigenden Thema weichen. Daraus entfaltet sich eine weit ausladende Folge dynamisch vorwärts drängender Akkordketten, die kurz durch lyrische Einschübe unterbrochen werden. Chopin schöpft hier harmonisch und dynamisch aus dem Vollen und lotet die Grenzen des Instruments aus. Grigorij Sokolov meißelte diesen Satz förmlich aus dem Notenmaterial heraus, und wer Chopin bisher für einen gefälligen Salonmusiker gehalten hatte, wurde hier ob der Komplexität und Radikalität dieser Musik eines Besseren belehrt.

Ähnlich wild und kompromisslos beginnt das Scherzo des zweiten Satzes, das erst langsam zu einem erkennbaren Thema findet. Das „piu lento“-Thema dagegen kommt eingängig und motivisch etwas prägnanter daher und kehrt zum Schluss wieder zum ersten Thema zurück. Sokolov ließ die Kontraste dieses Satzes deutlich werden, wobei er jedoch jeden Akkord einzeln formte und den Spannungsbogen der Musik mit hoher Konsequenz herausarbeitete. Damit verlieh er diesem Satzes etwas Verstörendes. Der folgende „Marche funèbre“ führte in eine völlig entgegengesetzte Welt der maßvollen, gehobenen Trauer. Alle Ausbrüche und schroffen Wendungen wichen nun einem Gang durch Entsagung und Abschied. Doch auch hier sorgen harmonische Rückungen für unerwartete Wendungen, die plötzlich den emotionalen Gehalt verschieben. Erst der Finalsatz bringt eine gewisse Auflockerung, als wolle der Komponist sagen, dass alles doch nicht so ernst gemeint sei und die Welt sich weiter drehe.

Grigorij Sokolov sorgte mit dieser Interpretation der Chopin-Sonate zweifellos für den Höhepunkt des Abends, nachdem man schon geglaubt hatte, die Schumann-Fantasie sei kaum noch zu übertreffen. Er leuchtete durch sein Spiel die Abgründe von Chopins Musik bis zum letzten aus und zeigte, welch radikales Potential in dieser Sonate steckt. Keine Note wurde nur gespielt, jede einzelne erfuhr ihre ganz eigene Behandlung und trug zum überwältigenden Gesamteindruck bei. Man braucht Sokolovs technische Perfektion nicht zu betonen; sie ist fast schon Selbstverständlichkeit. Seine ganz große Leistung bestand an diesem Abend darin, Chopins Sonate – wie auch Schumanns Fantasie – als Spiegelbild einer Künstlerseele zu deuten und wiederzugeben. Das Publikum erkannte dies intuitiv und blieb bis zum letzten Akkord hoch konzentriert. Selbst die Huster verstummten – bis auf eine ärgerliche Ausnahme.

Nach dem Finalsatz brach ein wahrer Beifallssturm über Gigorij Sokolov herein. Er nahm diesen Beifall in seiner üblichen Bescheidenheit dankbar hin und revanchierte sich mit sage und schreibe sechs(!) Zugaben von Schubert, Schumann und Chopin. „Nach dem Konzert ist vor dem Konzert“ könnte man sagen, denn in der Tat präsentierte er mit diesen Zugaben noch ein eigenes, über dreißigminütiges Konzert, auf das mancher ungeduldiger Zuschauer durch frühen Aufbruch leider verzichten musste. Erst gegen dreiviertel elf war endgültig Schluss.

Frank Raudszus

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