Ian McEwan: „Nussschale“

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Im Mutterleib wächst ein kleines Wesen heran. Wir wissen heute, dass Embryos schon Geräusche hören und Stimmungen aufnehmen können. „Wie eine hoch empfindliche Radioantenne empfängt die Plazenta Signale“, die sich auf den Fötus übertragen.

1612_nussschaleAuf dieser Basis – also aus der Perspektive eines ungeborenen Embryos – hat Ian McEwan seinen Roman „Nussschale“ aufgebaut. Das ist einerseits sehr spannend erzählt und andererseits für den Leser sehr berührend, da der Kleine – es handelt sich um einen Sohn – feinste Nuancen im Leben seiner Mutter wahrnimmt, Interpretationen versucht, aber am Ausgang des Geschehens nichts ändern kann. Dennoch ist er von allen Handlungen der Mutter betroffen und muss die Folgen mittragen.

Trudy ist schwanger. Sie ist mit dem Dichter und Verleger John verheiratet und lebt getrennt von ihm in seinem Londoner Haus. Johns Bruder Claude ist ihr Liebhaber. Während ihr Ehemann sie mit Gedichten zurückzugewinnen versucht, fesselt der Schwager sie mit aufregendem Sex. Trudy hat sich längst von ihrer alten Liebe entfernt und versucht, das neue Verhältnis zu vertuschen und ihren Mann auf Distanz zu halten. Der Kleine im Mutterleib bekommt Trudys Lügengebäude hautnah mit und natürlich auch die „poetischen“ Versuche seines Vaters, Trudys Herz zurückzugewinnen.

Als alles nichts fruchtet, erscheint John eines Tages mit einer jungen Geliebten und konfrontiert seine Frau und ihren Liebhaber – seinen Bruder – mit einer völlig neuen Situation. Beide sollen möglichst schnell das Haus verlassen, da er mit seiner neuen Liebe hier einziehen möchte. Da kommen bei Trudy und Claude Mordgedanken auf. Die ganz üble Planung geschieht stets im Beisein des Ungeborenen, der handlungsunfähig die Vorbereitungen für den Vatermord mit anhören muss.

Ian McEwan stilisiert den Fötus zum Philosophen. Er trägt schon eine gehörige Portion Weltwissen in sich, mit dem er in Gedankenspielen die jeweilige Situationen zu analysieren versucht. Er zeigt sich als Weinkenner und Gourmet und verfügt bereits im Mutterleib über einen ausgeprägten Sinn für Humor. Hier spürt man förmlich McEwans Freude an dem eigenen Romansujet.

Die überträgt sich auch auf den Leser. Gerne begibt man sich als Beobachter zurück in den Mutterleib und betrachtet die kleinlichen Versuche der Menschen, mit dem Leben zurechtzukommen.

Das Buch ist im Diogenes-Verlag erschienen, umfasst 277 Seiten und kostet 22 Euro.

Barbara Raudszus

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