Eva Stachniak: „Die Schwester des Tänzers“

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Vaclav Nijinsky, ein russischer Tänzer polnischer Herkunft, war der große Star des internationalen Balletts in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Etwas später erkrankte er nach einem Nervenzusammenbruch schwer und litt zwanzig Jahre lang an geistiger Zerrüttung. Erst im Alter von fünfzig Jahre erholte er sich wieder und lebte dann noch zehn Jahre.

Nijinsky hatte eine Schwester Bronislawa, genannt Bronja, die ebenfalls eine erfolgreiche Ballettkarriere durchlief und ihren Bruder um zwanzig Jahre überlebte, allerdings stets im Schatten ihres berühmten Bruders stand. Eva Stachniak schildert das Leben der Geschwister aus Bronjas Perspektive und  holt sie damit ein wenig aus der Vergessenheit hervor. Das Buch trägt zwar die Gattungsbezeichnung „Roman“, jedoch bezieht sich das Fiktive lediglich auf innerfamiliäre Abläufe und Gespräche, die natürlich nicht überliefert sind. Ansonsten hält sich die Autorin streng an die bekannten Fakten, darunter die Ehe Vaclavs mit einer ungarischen Tänzerin und Gräfin sowie Bronjas zwei Ehen, ihre zwei Kinder und den Unfalltod des Sohns.

Der Roman beginnt in den neunziger Jahren des 19. Jahrhundert, in denen bereits die kleinen Kinder der Eltern Nijinsky intensiv mit dem Tanz in Berührung kommen, da ihre Eltern beide dem Ballett angehören. Früh lernen die Kinder tanzen, wobei Vaclav schon in Kinderjahren sein großes Talent und seinen künstlerischen Willen beweist, während sein Bruder bereits in diesem Alter Ausfälle zeigt, später erst das Tanzen beenden und dann an geistiger Umnachtung erkranken wird. Diese Krankheit scheint in der Familie zu liegen, denn der hoch sensible Vaclav wird unter der gleichen Krankheit leiden, sie im Gegensatz zu seinem Bruder jedoch – wenn auch spät – überstehen.

Eva Stachniak entführt in diesem Hörbuch den Zuhörer in die Welt des großen Balletts mit ihren hohen körperlichen und seelischen Anforderungen, mit ihrer finanziellen Unsicherheit und mit den immerwährenden Intrigen und Streitereien unter sensiblen, egozentrischen und auch eitlen Künstlern. Nicht nur die großen Namen wie Nijinsky, Diaghilew oder Strawinsky erhalten in diesem Roman ein menschliches Gesicht mit allen Facetten, sondern auch das Leben für das Ballett wird in all seiner Härte und auch Erfüllung geschildert.

Doch es geht hier nicht nur um einzelne Menschen in der Welt des Tanzes sondern vor allem um die großen Umbrüche der Zeit, die sich nicht nur im Ersten Weltkrieg verdichten sondern auch in der Revolution des Balletts ausdrücken. War bis dahin Ballett eine getanzte Erzählung von Geschichten wie „Dornröschen“ oder „Schwanensee“, wobei die Tänzer und Tänzerinnen die Handlungen der Protagonisten tänzerisch darstellten, so änderte sich diese Sicht mit dem Ausnahmetalent Vaclav Nijinsky. Er brachte nicht nur die psychologische Befindlichkeit in den Ausdruckstanz, sondern entwickelte das Ballett zunehmend zu einer eigenständigen Kunstform, die sich selbst genügte und keine fremden Geschichten mehr erzählte. Dass dies heftigen Widerstand bei Kritik und Publikum weckte, war vorauszusehen und der Preis der Neuerungen. Als schlagendes Beispiel sei hier die Premiere des Balletts „Le Sacre du Printemps“ von Vaclav Nijinsky zu Igor Strawinskys Musik genannt. Die Pariser Premiere im Jahr 1913 endete in einem veritablen Theaterskandal mit Prügeleien und Duellforderungen zwischen Gegnern und Bewunderern dieses neuen Balletts. Der Roman zeigt die konsequente Entwicklung dieser Kunstform und die problematische Reaktion der Ballett-Kompanien auf die massive Kritik. Neben aller künstlerischen Begeisterung für neue Interpretationen und Tanzformen mussten die Leiter der großen Companien auch auf das Überleben und damit auf die Finanzen achten. Daraus ergab sich mancher „fauler“ Kompromiss, der engagierte und visionäre Künstler wie die Nijinsky-Geschwister enttäuschte und – im Falle von Vaclav – wohl auch den Geisteszustand angriff.

Der Hörbuch ist aus der zeitlichen Perspektive des Jahres 1939 geschrieben, als sich die Ich-Erzählerin Bronislawa Nijinsky nach ihrer Flucht aus der stalinistischen Sowjetunion auf einer internationalen Tournee befindet und ihre Erinnerungen an die letzten vierzig Jahre notiert. Rückblenden führen in die einzelnen Abschnitte dieser aufregenden Zeit zurück und zeigen die Protagonisten in den jeweiligen Stadien ihrer Entwicklung und in ihren seelischen Eigenarten, Schwächen und Sehnsüchten. Der Sprecherin Gabriele Blum gelingt es überzeugend, mit ihrer Intonation das Wesen und die Befindlichkeit der Bronislawa Nijinska lebendig werden zu lassen, so dass der Zuhörer beginnt, mit dieser Frau zu leben und zu leiden.

Das Hörbuch ist im Verlag Hörbuch Hamburg erschienen, umfasst 8 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 597 Minuten und kostet 19,99 Euro.

Frank Raudszus

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