Jon Fosse: „Ein anderes Leben: Heptalogie I-II“

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Die Literaturgeschichte weist dem – guten! – Roman eine ganze Reihe typischer Eigenschaften zu, zu denen etwa ein reiches Personaltableau, sorgfältig konturierte Charaktere, eine sich markant entwickelnde Handlung und schließlich eine reiche, vielfältige Sprache gehören.

Nichts von alle dem zeichnet das Romanwerk – oder zumindest die ersten beiden Teile des siebenbändigen Werks – des gerade zum Nobelpreisträger gekürten Norwegers Jon Fosse aus. Das Personal beschränkt sich neben dem erzählenden Protagonisten Asle – seines Zeichens Maler – gerade einmal auf drei weitere Personen, wenn man einmal von Asles Erinnerungen an wenige andere absieht. Deren Charaktere sind ebenfalls bewusst auf statische Eigenschaften reduziert, und die Handlung kann man als minimalistisch bezeichnen. Das trifft auch auf die Sprache zu, die an manchen Stellen eine geradezu ostinat minimalistische Aura verbreitet. Doch diese äußerste Reduktion der Stilmittel übt ihre ganz eigene Wirkung aus, die den Roman letztlich auch aus der Menge gegenwärtiger Literatur heraushebt.

Der Roman beginnt mit Asles Heimfahrt vom monatlichen Einkauf in der größeren Stadt in seinen kleinen Heimatort irgendwo an der einsamen Küste Norwegens. In den Außenbezirken der Stadt fährt er an der Wohnung seines alten Freundes Asle vorbei, schaut jedoch wider besseres Wissen nicht bei ihm vorbei. Schon der Name dieses Freundes verweist auf ein „alter ego“, viel mehr aber dessen Beschreibung: Maler und gleichen Alters wie der Protagonist, identische graue Haartracht, schwarzer Mantel und Umhängetasche. Und Asle ist Alkoholiker wie der Ich-Erzähler in seiner Vergangenheit. Man kann sich den anderen Asle also als alternative Entwicklungsvariante des Erzählers denken.

Auf dem weiteren Weg legt Asle an einem Spielplatz eine Ruhepause ein und sieht einem jungen Paar beim Schaukeln zu. Dabei mutieren die beiden jungen Menschen in seinen Gedanken zu ihm selbst und seiner verstorbenen Frau, und er baut ihren Dialog buchstäblich aus seinen Erinnerungen zusammen. Hier nimmt die Sprache bewusst einen konstruierenden Charakter an, indem der Autor über Seiten hinweg jedem Halbsatz ein „sagt sie“ oder „sagt er“ hinzufügt. Das wirkt auf den Hörer entnervend, ist jedoch beabsichtigt, um eben diesen dramaturgischen Charakter hervorzuheben. Dasselbe sprachliche Konstrukt nutzt Fosse auch bei seinen inneren Monologen mit permanent eingestreuten „denke ich“, um auf die systematische Entstehung seiner Gedankenwelt hinzuweisen.

Zu Hause begrüßt ihn sein Nachbar Usleck, Landwirt und unverheirateter Einzelgänger, mit dem ihn eine nachbarlich Zweckgemeinschaft verbindet. Mit ihm tauscht er belanglose Redensarten aus, die sich zirkulär wiederholen. Diese Wiederholungen sind ein weiteres Merkmal nicht nur von Dialogen, sondern vor allem von Monologen, in denen bestimmte Empfindungen oder Absichten wie beim Beten eines Rosenkranzes kreisförmig wiederholt werden. Fosse verweist damit auf unser aller Gedankenwelt, in der wir Dinge gerne viele Male wiederholen; eine Gewohnheit, die in einem Dialog nur entnervend wirken würde.

Da Weihnachten bevorsteht, lädt ihn Usleck wie in den Vorjahren zu einem gemeinsamen Fest bei seiner Schwester Gyro ein, die lange mit einem Spielmann zusammen gelebt hat und diesen wegen des Alkohols aus dem Hause gejagt hat. Bisher hat Asle immer abgesagt.

Asles schlechtes Gewissen, nicht nach seinen Freund Asle geschaut zu haben, lässt ihn sofort noch einmal die lange Fahrt in die Stadt antreten, wo er seinen Freund krank im Schnee der Straße findet, ihn ins Krankenhaus bringt und seinen kleinen Hund an sich nimmt. Auf dem Fußweg zum Hotel verirrt er sich im Schneetreiben – eine starke metaphorische Szene! – und wird von einer Frau „gerettet“, die ihn zu kennen vorgibt, sich Gyro nennt und angeblich einst mit einem Spielmann zusammen war, den sie wegen des Alkohols aus dem Haus gejagt hat. Dass sich Asle, anders als der Leser, weder an ihren Namen noch an die Geschichte mit dem Spielmann erinnern kann, verleiht dieser Szene eine weitere geradezu surrealistische Wirkung.

Zurück an seinem Wohnort im alten Haus, wo er einest mit seiner Frau gelebt hat, führt er ein weiteres Gespräch der ebenfalls ins Surreale gesteigerten Belanglosigkeiten mit Usleck, um dann für das gemeinsame Weihnachtsfest zuzusagen. Erschöpft von der anstrengenden Fahrten betet er einen Rosenkranz und schläft dann ein. Er träumt von seiner Kinderzeit, und hier, am Ende dieses einführenden Teils, kommen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch hoch, der bis dahin kein Thema war, und die bis dahin eher peripher erwähnte Religiosität wird hier noch einmal zu einem intensiven Gebet gesteigert. Mit dieser Einführung neuer Themen verweist der Autor auf die Tatsache, dass diese Erzählung ihre Fortsetzung finden wird.

Die Malerei des Protagonisten bildet einen zentralen Punkt des Romans, wobei es jedoch nie um die technische Seite des Malens, sondern vielmehr um die spirituelle Wirkung vor allem auf den Künstler selbst geht. Er versucht, in seinen Bildern das „Licht“ einzufangen, und hat im Laufe der Jahre erkannt, dass nur die dunklen Farben das wahre Licht ausstrahlen. Dieses Licht des „Schwarz“ lässt sich mit bloßem Auge nicht erkennen, sondern nur mit einer ganzheitlichen, sprich: spirituellen Herangehensweise erahnen. Und so verkauft Asle die Bilder, die sich diesem „Licht“ annähern, auch nicht, sondern verwahrt sie für sich alleine auf dem Dachboden. Die Malerei und die dabei entstehenden Bilder stehen daher auch in engem Zusammenhang mit der im Laufe des Romans sich langsam aber stetig anbahnenden Religiosität, die jedoch nie dogmatische Züge annimmt.

Die weiter oben beschriebenen inhaltlichen wie sprachlichen Merkmale dieses Romans verleihen ihm eine weltabgewandte, geradezu spirituelle Aura, obwohl oder gerade weil es in den Monologen und Dialogen nur um alltägliche Belanglosigkeiten geht. Ohne zu früh die Interpretation übersteuern zu wollen, kann man daraus schließen, dass das Leben für Fosse tatsächlich etwas Belangloses, sich stetig – und sinnlos? – Wiederholendes an sich hat, dem der Mensch keinen eigenen höheren Sinn verleihen kann. Doch wahrscheinlich wird man erst die weiteren Teile lesen müssen, um sich ein literarisches Gesamtbild verschaffen zu können.

Das vorliegende Hörbuch ist bei Audiobuch als mp3-Datei erschienen, umfasst 208 Kapitel mit einer Laufzeit von über zwölf Stunden und kostet 18,99 Euro.

Frank Raudszus

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