Jennifer Donnelly: „Straße der Schatten“

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Wäre dieser Roman Ende des 19. Jahrhunderts erschienen, könnte man – trotz einiger handwerklicher Mängel – von einer mutigen literarischen Tat sprechen. So jedoch wärmt er fast 130 Jahre später nur alte Entwicklungen wieder auf, ohne dabei größeren aktuellen Erkenntniswert zu produzieren.

Josephine wächst als Tochter angesehener New Yorker Großbürger in einem Mädchenpensionat auf, als sie plötzlich der tragischen Unfalltod ihres Vaters nach Hause ruft. Bei einem zufälligen Kontakt mit einem Zeitungsreporter erfährt sie, dass es sich in Wirklichkeit um einen Selbstmord handelt, den die Familie nicht öffentlich werden lassen will. Geschockt und verunsichert recherchiert sie mit Hilfe des – natürlich gut aussehenden(!) – Reporters weiter und muss schnell erkennen, dass es in Wirklichkeit um Mord geht. Eddy, so der Name des Reporters, hat sich aus kleinsten New Yorker „Gassen“-Verhältnissen hochgearbeitet und verliebt sich natürlich in Josephine, wie umgekehrt. Doch die gesellschaftlichen Verhältnisse, sie sind nicht so.

Gemeinsam untersuchen die beiden die letzten Aktivitäten und Kontakte des ermordeten Vaters und stoßen dabei auf ein Netzwerk von üblen Geschäften in den obersten Kreisen New Yorks, deren drohende Aufdeckung zu weiteren Morden führt. Von den Beteiligten werden diese jedoch Straßenräubern und dubiosen Erpressern zugeschrieben. Selbst das recherchierende Paar gerät wegen der Nachforschungen ins Visier des kriminellen Netzwerkes, das sich bis in Josphines engere Verwandschaft erstreckt. Als sie ausgerechnet einem engem Vertrauten im Familienkreises von ihren Erkenntnissen erzählt, weiß auch der Zuhörer, dass ihr Schicksal damit besiegelt ist.

In einem spannenden Showdown im Park einer Nervenklinik – hier unverblümt „Irrenhaus“ genannt – löst sich der komplizierte Knoten von Schuld, Rache und Erpressung. Und hier setzt auch eine Kritik an dem Roman an. Bis dahin bewegt er sich in dem konventionellen Rahmen „Hübsche höhere Tochter löst mutig Kriminalfilm und  heiratet nicht standesgemäßen Reporter“. Doch dann strotzt er geradezu vor literarischer Unglaubwürdigkeit. Nachdem die beiden Mörder Josephine auf Tod und Leben durch den nächtlichen Park gejagt haben und sie nur eine plötzlich auftauchende junge Frau („dea ex machina“!) mit Pistolenschüssen gerettet hat, gesteht der Hauptschuldige mit einer Kugel im Knie im Ton einer ruhigen Lebensbilanz seine Untaten. Und während Wärter und Polizisten bereits rufend durch den Park streifen, diskutiert sie mit dem Mörder noch die Feinheiten und Gründe der Taten, für die keine Beweise vorliegen(!), wie in einem Universitätsseminar. Natürlich hat diese Naivität Folgen, und die Gerechtigkeit setzt sich nur wegen plötzlich auftretender Beweise Bahn.

Die Nebenhandlung, die zur Auffindung der Beweise in buchstäblich letzter Sekunde führt, ist selbst ein Beispiel für familiäre Konstellationen hart am Rande des Kitsches und soll hier nicht näher ausgeführt werden. Es bleibt nur anzumerken, dass die Besitzerin der Beweise trotz voller geistiger Zurechnungsfähigkeit und ohne äußeren Druck das Versteck der Beweise wie bei einem Kindergeburtstags-Rätsel nur blumig beschreibt, so dass Josephine noch ein mythisches Rätsel lösen muss. Angesichts der existenziellen Not der Situation ist diese fast schon humoristische Lösung nicht nur lebensfremd sondern geradezu lächerlich.

Zwar ist der Roman flott geschrieben und hört sich auch als Hörbuch über lange Strecken spannend an, wirkt jedoch letztlich wie ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert. Dass die Sprecherin (Sabine Arnhold) noch mit einem „S“-Fehler zu kämpfen hat, wirkt dabei wie ein falsches „i“-Tüpfelchen.

Das Hörbuch ist in der Reihe „Osterwold“ im Verlag Hörbuch Hamburg erschienen, umfasst sechs CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 475 Minuten und kostet 9,99 Euro.

Frank Raudszus

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