Die große Kunst der Pause

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Wenn sich das Publikum gesetzt hat und erwartungsvolle Stille in den Zuschauerreihen eintritt, geschieht bei der Premiere von Georg Friedrich Händels Oper „Orlando“ im Kleinen Haus des Staatstheaters Darmstadt – erst einmal gar nichts. Auf der Bühne ohne Vorhang sitzen an der Rampe zwei Darsteller (Owen Willets und Joao Pedro de Paula) vor der mit einem wimmelnden Videoclip gefüllten Rückwand und schauen unverwandt ins Publikum. Sehr langsam, mit bewusster Verzögerung, füllt sich die Bühne mit den anderen Darstellern, die dort mit sparsamen pantomimischen Einlagen ihre Positionen beziehen. Dazu spielt das im hochgestellten Orchestergraben gut sichtbare Orchester nicht einen einzigen Ton. Die Stille auf der Bühne entwickelt durch ihre Konsequenz eine stetig wachsende Spannung, bis der Countertenor Owen Willets zur zurückhaltenden Begleitung des Orchesters einige Takte singt. Dann tritt wieder Stille ein.

Am Ende des Bühnenaufmarsch erscheint die Kammersängerin Elisabeth Hornung in heutiger Kleidung, setzt sich auf einen Stuhl und beginnt, auf einem Kofferradio Musik zu hören – Händels „Orlando“. Jetzt endlich steigt das Orchester geschickt in die vermeintliche Radiomusik ein, übernimmt diese, und die Oper kann auch musikalisch beginnen. Mit diesem Regieeinfall setzt Regisseur Jörg Weinöhl einen schmalen Rahmen um die Handlung, der eine feine ironische Distanz zu dem Bühnengeschehen erzeugt. Elisabeth Hornung wird die Inszenierung über lange Strecken als passionierte aber zurückhaltende Zuschauerin begleiten und mit ihrer Präsenz an das Spielerische einer Fiktion erinnern.

Orlando ist durch erfolgreiche Feldzüge zum Egomanen geworden, der es nicht ertragen kann, dass die von ihm angebetete Angelica ihn nicht (mehr) liebt, sondern den jugendlichen Medoro. In diesen ist jedoch auch die Dienstmagd Dorinda verliebt. Sie hat aufgrund ihres geringen Standes keine Chance auf eine Erfüllung ihrer Liebe zu Medoro und wird deshalb gemäß einer alten Komödienregel zu einer zentralen Figur dieser Oper. Sie schildert dem Publikum in einem langen Solo die traurigen erotischen Verhältnisse und wird auch weiterhin die Handlung vorantreiben. Als Angelica ihr aus Mitleid ein Armband schenkt, das sie einst von Orlando erhielt, sind alle Voraussetzungen für ein Drama geschaffen. Orlando
entdeckt dieses Armband bei Dorinda und verfällt aus Wut dem Wahnsinn. Orlando vertritt – wie Cervantes´Don Quichotte – die alten Ritterideale, die ihm das Recht auf die geliebte Frau einräumen. Erst der Magier Zoroastro (Johannes Seokhoon Moon) wird ihn am Ende heilen und in ein vernunftgesteuertes Leben entlassen.


Owen Willetts, Joao Pedro de Paula

Orlandos Furor ist der zentrale Punkt dieser Oper. Das birgt bei einer Inszenierung stets die Versuchung, ihn auf der Bühne physisch auszuleben. Vor allem das heutige Regietheater unterliegt einer solchen Versuchung gerne, da es – frei nach Castorf – auf die Spitze getrieben Expressivität offenbar für authentisch hält. Händels Barockmusik unterstützt jedoch solche ungehemmte Emotionalität nicht. Was dort als wild bewegte Musik gilt, wird heute, im Zeitalter der Reizüberflutung, höchstens als „lebhaft“ empfunden. Regisseur Weinöhl trägt diesem Umstand Rechnung und beschränkt Orlandos Furor auf den emotionalen Ausdruck des Gesangs und der Mimik. Darüber hinaus arbeitet er intensiv mit dem Mittel der Pause: durch musikalische wie szenische Generalpausen in Minutenlänge schafft er eine gespannte Atmosphäre, in der sich jede Gestik und Mimik Orlandos zu einer Eruption steigert. Owen Willets folgt diesem Regiekonzept dadurch, dass er die Wut seiner Figur durch mühsam kontrollierte Körperspannung, hoch verdichtete Mimik und vor allem intensive stimmliche Spannung ausdrückt. Auch ohne Geschrei und körperliche Ausbrüche kommt der wachsende Wahnsinn überzeugend zum Ausdruck.

Ensemble

Im Sinne eines spartenübergreifenden „Gesamtkunstwerks“ hat Weinöhl, von Hause aus Choreograph, den Tanz in diese Oper integriert. So folgt der Tänzer Joao Pedro de Paula Owen Willets als Orlandos „alter ego“ wie ein Schatten. Seine tänzerischen Bewegungen bringen Orlandos Befindlichkeit durch Körpersprache zum Ausdruck, doch auch er setzt Orlandos Wut in gespannte, nicht betont eruptive Bewegungen um. Darüber hinaus lässt Weinöhl noch zwei Tänzerinnen des Balletts agieren, die laut Programmheft wahlweise auf die von Orlando geretteten Prinzessinnen oder auf Elfen verweisen sollen. Beide Interpretationen ergeben sich jedoch nicht aus dem Bühnengeschehen, sondern man kann sie als körpersprachlichen Ausdruck der weiblichen Befindlichkeiten sehen. Die Frauen sind , wie in vielen Stücken des Barocks und des Rokokkos, stets die Betrogenen und Benachteiligten. Doch auch für humoristische Aspekte ihres Daseins haben diese tänzerischen „Elfen“ einen Sinn.


Julia Giebel, Kana Imagawa, Johannes Seokhoon Moon, Astrid Julen

Philipp Fürhofer hat für diese Inszenierung ein Bühnenbild geschaffen, das Sparsamkleit mit verblüffender Wirkung verbindet. Der großflächige Videoclip auf der Bühnenrückwand mit dem schwarz-weißen Gewimmel – Menschenmenge? Emotionen? – erscheint genau zwei Mal, zu Beginn und zum Ende, und unterstützt damit das Rahmenkonzept. Ansonsten benutzen die Darsteller fast ausschließlich einen transparenten, gestaffelten Vorhang, um sich darin zu verbergen, einzuwickeln oder ihn zur partiellen Abdeckung des Bühnenraums zu nutzen. Angedeutete Zeichnungen auf diesem Vorhang verweisen auf menschliche Akte in verschiedenen Positionen und damit auf den latent erotischen Charakter dieser Oper. Die Kostüme sind – bis auf die Tänzer – durchweg modern gehalten: Orlando und sein Schatten tragen olivfarbene Militärhosen und – Joao Pedro de Paula – auch einmal einen Brustpanzer und ein Schwert, Angelica (Julia Giebel) und Medoro (in einer Hosenrolle Xiaoyi Xu) treten in geschäftsmäßigen Hosenanzügen auf, während sich Dorinda meist in einen überdimensionalen grauen Strickpullover einhüllt, der ihr Schutzbedürfnis zum Ausdruck bringt. Der „Magier“ Zoroastro erscheint hier nicht in einer ehrfurchtsgebietenden Kostümierung, sondern eher wie ein Varieté-Zauberer, womit diese Inszenierung eine weitere komödiantische Note erhält.


Owen Willetts, Julie Grutzka

Eine besondere Rolle spielt in dieser Inszenierung die Musik. Wie im Barock hat man den Orchestergraben auf Bühnenniveau angehoben, so dass Blickkontakt zwischen Bühne, Orchester und Publikum besteht. Für die Zuschauer eröffnet sich damit zumindest in den ersten Reihen die Möglichkeit, die Musiker bei der Arbeit zu beobachten und nicht nur das akustische Ergebnis zu rezipieren. Darüber hinaus bemüht man sich erfolgreich um einen historisch authentischen Klang. Das ist zwar angesichts der knappen akustischen Belege – Schallplatten, CDs – aus dem Barock – ein gewagtes Unternehmen, aber die Musikwissenschaft weiß zumindest aus der Literatur um die mögliche Klangwirkung im 17. und 18. Jahrhundert. Man verzichtet bewusst auf den „perfekten“ Orchesterklang des 20. Jahrhunderts und bemüht sich um sparsame Klangentwicklung, die einhergeht mit höchster Transparenz. Alte Instrumente wie die Theorbe tragen zusätzlich zu einem ganz besonderen Höreindruck bei. Die hohe musikalische Transparenz, die bewusste Sparsamkeit im instrumentalen Einsatz und im musikalischen Ausdruck schaffen eine ganz besondere Atmosphäre, die den Zuhörer aus der Rolle des passiven, überforderten Rezipienten in die eines aktiv zuhörenden, wenn nicht – in Gedanken – mitspielenden Akteurs befördert. So lebens- und publikumsnah kann Oper auch sein; das geht natürlich nur, wenn das Werk selbst auf die große Geste und den berauschenden Effekt verzichtet und die Einzelszene sowie deren musikalische Begleitung in den Vordergrund stellt. Das ist in Händels „Orlando“ der Fall, und das Ensemble setzt die kompositorischen Vorgaben sowie die Ideen der Regie kongenial um.

Die Darsteller zeichnen sich durchweg durch deutliche Präsenz und ausgezeichnete stimmliche Leistungen aus. Hervorzuheben sind Owen Willets mit seinem anspruchsvollen Countertenor-Part, den er souverän meistert, sowie Julie Grutzka, die der Figur der Dorinda darstellerisch und stimmlich ein vielfältiges Profil verleiht. Diese beiden tragen zusammen mit Johannes Seokhoon Moon die sängerische Hauptlast, doch Julia Giebel (Angelica) und Xiaoyi Xu (Medoro) fügen sich nahtlos in dieses gute Bild ein. Nicht zu vergessen die Tänzerinnen Kana Imagawa und Astrid Julen, die für viele Akzente sorgen, und natürlich Joao Pedro de Paula als Orlandos „Schatten“.

Das Premierenpublikum zeigte sich begeistert und spendete kräftigen Beifall.

Frank Raudszus

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