Sasha Filipenko: „Rote Kreuze“

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„Ein Leben ist zu Ende – und ein anderes Leben beginnt“ sagt sich ein dreißigjähriger Mann. Er hat gerade über eine Maklerin eine Wohnung in Minsk bezogen. Eine Frau hat er nicht mehr, aber dafür eine drei Monate alte Tochter.

Plötzlich bemerkt er, dass seine Wohnungstür mit einem roten Kreuz markiert ist. Als das Kreuz entfernen will, spricht ihn eine ältere Dame aus dem Haus an. Sie habe seine Wohnungstür mit dem Kreuz markiert, denn sie leide an Alzheimer und brauche das Zeichen, um die eigene Wohnung zu finden.

Die alte Dame ist neunzig Jahre alt und erzählt ihrem jungen Nachbarn Stück für Stück ihre Lebensgeschichte. Tatjana Alexejewna hat die Gräuel der Stalinschen Säuberungen hautnah erlebt. Die Sowjetunion befindet sich 1941 im Krieg mit Deutschland, und Tatjana arbeitet als junge Fremdsprachensekretärin im NKID, dem Außenministerium in Moskau. Sie ist verheiratet mit Ljoscha und hat eine kleine Tochter, Assja. Doch dann muss Ljoscha an die Südfront. Nur zwei Briefe erhält Tatjana von ihrem Mann, dann reißt die Verbindung ab.

Als sie zu Beginn des Winters die Namensliste des Roten Kreuzes der sowjetischen Kriegsgefangenen an der rumänischen Front abtippen muss, stößt sie dabei auf den Namen ihres Mannes. Er lebt also! Tatjana ist erst einmal erleichtert; aber dann erinnert sie sich, dass sie Stalins Befehl Nr. 270 abgetippt hat, demzufolge alle Kriegsgefangenen als Deserteure und Verräter zu behandeln seien. Auch die Angehörigen von Kriegsgefangenen sollten entweder zu fünfzehn Jahren Lager oder sogar zur Erschießung verurteilt werden….

Wie heißt es doch am Anfang des Romans – „Ein Leben ist zu Ende und ein anderes beginnt“. Tatjana durchläuft von jetzt an die Hölle. Wie grausam und radikal die Sowjetmacht mit ihren Bürgern umging, das ist für den Leser kaum zu ertragen. Der junge Wohnungsnachbar hört sich Tatjanas grausame Lebensgeschichte geduldig an. Auch er hat – auf ganz andere Weise – seine große Liebe verloren. Doch seine Lebensgeschichte war Schicksal, während Tatjanas die Willkür der politischen Machthaber beschreibt.

Das Buch ist im Diogenes-Verlag erschienen, umfasst 281 Seiten und kostet 22 Euro.

Barbara Raudszus

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