Lisa Randall: „Die Vermessung des Universums“

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Eine weit ausholende Zusammenfassung des derzeitigen Stands der modernen Physik

Ein Schelm, wer bei dem Titel der deutschen Übersetzung dieses Buchs nicht an Daniel Kehlmann und seinen Bestseller „Die Vermessung der Welt“ denkt. Während jedoch Kehlmann den Titel eher allegorisch meinte und die mathematischen Leistungen von Gauß sowie die Entdeckungen von Alexander von Humboldt beschrieb, geht es bei Lisa Randall im wahrsten Sinne um Maßeinheiten und ihre physikalische Bedeutung. Dabei hat auch sie den ursprünglichen Titel ihres Buches nicht ohne Augenzwinkern gewählt: „Knocking on Heaven´s Door. How Physics and Scientific Thinking illuminate the Universe and the Modern World“ erweist zumindest im ersten Teil Bob Dylans berühmtem Lied seine Reverenz. Lisa Randall gehört heute zu den profiliertesten Vertretern der theoretischen Physik und hat unter anderem an den Universitäten von Berkeley und Harvard studiert. An letzterer lehrt und forscht sie heute.

Ihrem Buch stellt sie eine längere Einleitung voran, die ihre Ausführungen in verständlicher Weise zusammenfasst. Wer sich nur schnell einen Überblick verschaffen will und sich von der abstrakten Welt der theoretischen Physik überfordert fühlt, gewinnt hier zumindest einen Eindruck von der Welt der Elementarteilchen und ihrem Gegenstück, der Kosmologie. In der einen Welt geht es um unvorstellbar kleine, in der anderen um unvorstellbar große Dimensionen.

Das erste Kapitel widmet sich dem Begriff der Größenordnungen. Hat ein Physiker sich einmal für ein bestimmtes Fachgebiet entschieden, taucht er in die Welt der jeweiligen Dimension ein, die sich radikal von der uns vertrauten Alltagswelt unterscheiden kann. Wir bewegen uns in der Größenordnung des „Metermaßstabs“, der nicht zufällig etwa in der Mitte der kleinsten und größten beobachteten Dimensionen liegt. Unter der Überschrift „Was für dich so klein ist, ist für mich so groß“ verdeutlicht sie, dass jede Größenordnung eigene Gesetze ihr eigen nennt. Phänomene, die in einem bestimmten Bereich der Größenskala bekannt sind und selbstverständlich erscheinen, spielen in einem anderen plötzlich keine Rolle mehr oder können sich gar ins Gegenteil verkehren. Während wir im Großen alle das Wesen der Schwerkraft zumindest „gefühlt“ zu verstehen glauben (bisher hat kein Physiker das Wesen der Gravitation wirklich und endgültig verstanden), gelten diese im Inneren der Atomkerne nicht mehr und werden durch eine Gruppe „starker“ und „schwacher Wechselwirkungen“ ersetzt, deren Eigenschaften für einen Laien nur noch sehr schwer zu verstehen sind. Doch Lisa Randall führt die Leser langsam an die Besonderheiten der einzelnen Größenordnungen heran und erklärt die wesentlichen Eigenschaften ganz ohne mathematische Formeln und in allgemeinverständlichen Worten. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Leser durch entspanntes Lesen in die Geheimnisse der Teilchenphysik eindringen kann. Es gibt keinen einfachen „Königsweg“ in die abstrakte Welt der Kernphysik, und vor das Verstehen haben „die Götter“ – das heißt: die Welt, wie sie ist – den Schweiß des mühsamen Erarbeitens gesetzt.

Bei aller Abstraktion vermittelt Lisa Randall jedoch bereits in diesen ersten Kapiteln die Faszination, die das Fachgebiet ausübt,  und den Wissensdrang, der alle erfolgreichen Physiker auszeichnet. Man muss schon besessen sein von dieser seltsamen, durch Anschauung nicht belebten Welt, um tiefer in ihre Geheimnisse einzudringen und nicht den Überblick zu verlieren. Lisa Randall verfügt über diesen Wissensdrang sowie die erforderlich intellektuelle Potenz, Phantasie und Beharrlichkeit, um die Welt der Elementarteilchen Stück für Stück aufzublättern.

Um dem Leser die Bandbreite der Größenordnung zu verdeutlichen, ordnet sie die verschiedenen Forschungsbereiche in einer logarithmischen Skala an, die im ersten Teil („Die Vermessung der Materie“)von der sogenannten „Plancklänge“ (10-35 m) bis zu der menschlichen Dimension von einem Meter reicht. Hier siedelt sie die Bestandteile eines Protons, das Elektron und generell die Theorie der Quantenmechanik, dann die DNA-Ausdehnung, die Wellenlängen des Lichts und schließlich die Größe der Blutkörperchen an. Leser, die mit der logarithmischen Darstellung von Zehnerpotenzen vertraut sind, erhalten hier einen Eindruck von der unermesslichen Tiefe der Welt, von der wir nur einen winzigen Bruchteil erfassen. Im späteren Kapitel „Vermessung des Universums“ entwickelt die Autorin die zweite Skala, die vom Metermaß bis zur Ausdehnung des bekannten Universum (1027 m) reicht. Auf dieser Skala ordnet sie nacheinander die Erde, das Sonnensystem, unsere Milchstraße und schließlich die anderen Galaxien an.

Zwischen diesen beiden Extremitäten der physikalischen Größenordnungen schiebt sie einen ausführlichen Bericht über die Methoden, mit denen man in die kleinsten Maßstäbe eindringt. In der normalen Welt messen wir mit Licht (Augenschein) oder Elektronen (Elektronenmikroskop). Je kleinere Distanzen man messen will, desto höhere Frequenzen benötigt man. Höhere Frequenzen erfordern jedoch höhere Energien, und diese kann man nur mit immer größeren Apparaten erzeugen. Da man in Größenordnungen von Elektronen und kleiner nicht mehr mit Elektronen messen kann (es leuchtet unmittelbar ein, dass eine Messmethode wesentlicher feiner als das zu messende Objekt sein muss), kann man kleinere Teilchen nur noch an den Folgen elementarer „Katastrophen“ messen. Dazu lässt man Teile mit hoher Energie aufeinanderprallen und misst dann die bei dem Zerfall der Teilchen freiwerdenden Energien. Dazu entwickelt man entsprechende Teilchenbeschleuniger, in denen Elementarteilchen, vorzugsweise Protonen, hoch beschleunigt und dann zur Kollision miteinander gebracht werden. Wegen der elektrischen Ladung der Protonen kann man diese Beschleunigung mit starken Magnetfeldern erreichen. Für die benötigte Endgeschwindigkeit müssten diese Magnetfelder jedoch Hunderte wenn nicht Tausende von Kilometern lang sein. Da dies praktisch nicht machbar ist (Erdkrümmung!), zwingt man die Protonenstrahlen – ebenfalls durch Magnetfelder – in eine Kreisbahn und kann so mit einem Ring beliebig lange Beschleunigungsstrecken erzielen.

Nachdem mit den in den USA und beim CERN in Genf verfügbaren Beschleugern keine weitere Verfeinerung mehr zu erreichen war, entschloss man sich in den neunziger Jahren im Genfer CERN, mit dem „Large Hadron Collider(LHC)“ einen Ringbeschleuniger zu bauen, der bei einem Umfang von 27 km gleich zweimal die Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich überschreitet. Lisa Randall widmet der Entscheidung für den LHC, der Planung, den verschiedenen (finanz)politischen Irrungen und Wirrungen sowie dessen Bau und Inbetriebnahme den gesamten Mittelteil ihres Buches. Dabei geht sie nicht nur auf die technischen Eigenschaften dieses Großgeräts sondern vor allem auf seinen Zweck und die dahinter stehende Forschung ein. Ziel ist es, die Zusammensetzung der Protonen zu erforschen, wozu man eine große Zahl von Protonen-Kollisionen erzeugen muss. Bei jeder Kollision von Protonenbündeln – die nur wenige Millimeter dick sind – ist wegen der großen Abstände zwischen den einzelnen Kernelementen die unmittelbare Kollision von Teilchen sehr unwahrscheinlich. Um überhaupt statistisch auswertbare Ergebnisse zu erzielen, muss man sehr viele solcher Kollisionen herbeiführen. Lisa Randall beschreibt detailliert, welche Probleme dabei entstehen, nicht nur technisch bei der Durchführung sondern auch bei der Auswertung.

Bei diesen Überlegungen kommt sie auch auf die „schwarzen Löcher“ zu sprechen, die im Rahmen dieser Experimente erzeugt werden (sollen und müssen) und die in der Öffentlichkeit Fragen und Unruhe erzeugt haben, bis hin zu der Beantragung Einstweiliger Verfügungen gegen das CERN. Es fällt Lisa Randall sichtbar schwer, die teilweise grobe Inkompetenz der Kritiker als Zeichen eines dumpfen Unverständnisses ernst zu nehmen und nicht ironisch darüber zu spotten. Wenn allerdings ein Kritiker meint, die Chance, dass ein solches „Schwarzes Loch“ im CERN die ganze Erde verschlinge, sei 50 Prozent („Entweder es passiert oder es passiert nicht!“), kann sie sich entsprechende Randbemerkungen zu Recht nicht mehr verkneifen.

Nach Fertigstellung des LHC im Jahr 2008 hat Lisa Randall die lang erwarteten Experimente mit Spannung begleitet und berichtet über die Ergebnisse. Dabei spielt das mittlerweile berühmte „Higgs Boson“ eine wesentliche Rolle. Die neuesten Theorien, darunter die „String-Theorie“ über die Bestandteile der Kerne  – Quarks, Gluonen, Bosone – und deren Wirkungsweise, fordern aus Konsistenzgründen die Existenz eines bestimmtes Bosons, das nach seinem „Erfinder“ Higgs dessen Namen erhalten hat. Bisher konnte man dessen theoretisch definierte Existenz nicht nachweisen, doch die Experimente im LHC haben starke Indizien für die Existenz des Higgs-Bosons erbracht. Lisa Randall verknüpft mit dieser spannenden Geschichte der LHC-Experimente vertiefte Erklärungen der verschiedenen Theorien der modernen Teilchenphysik, bis hin zu zusätzlichen Dimensionen in stark gekrümmten Räumen, die jedoch unserer Welt nie zugänglich sein werden. Dieser Teil von Lisa Randalls Buch ist der anspruchsvollste, da er mit vielen Begriffen der modernen Physik arbeitet und ihr zumindest grobes Verständnis voraussetzt. Hier reicht einfaches Durchlesen nicht mehr; man muss sich mit den Gedankengängen und Erläuterungen intensiv auseinandersetzen, um die weiteren Ausführungen auch nur ansatzweise zu verstehen.

Nach der „Reise zum Mittelpunkt der Teilchen“ wagt Lisda Randall zum Schluss eine zweite Reise in die Gegenrichtung, nämlich in die Kosmologie, wo in Tausenden oder Millionen von Lichtjahren zählende Entfernungen eine Rolle spielen. Dabei dreht sie ihren anfänglichen Spruch in das Gegenteil um: „Was für dich so groß ist, ist für mich so klein“, will sagen: ein Sonnensystem oder gar eine Galaxie wie die Milchstraße ist im Maßstab des gesamten (bekannten) Universums verschwindend klein. Dabei diskutiert sie intensiv die Begriffe der „dunklen Materie“ und der „dunklen Energie“, Größen, die sich mit den uns bekannten Mittel wegen fehlender Wechselwirkungen nicht messen lassen, die aber aus Konsistenzgründen existieren müssen. Nach dem Stand des heutigen physikalischen Wissens nimmt die sichtbare Materie (Galaxien, Sternennebel) angesichts der beobachteten Gravitationswirkungen nur etwa vier Prozent der gesamten Masse im Universum ein. Der Rest besteht aus diesen beiden neuen Größen, über deren Beschaffenheit bis heute nur – divergierende – Vermutungen existieren. Lisa Randall berichtet auch auf diesem Gebiet über den Stand der Forschung und die verschiedenen Theorien, die letztlich alle auf dem berühmten „Urknall“, der „Inflation“ des (ganz) frühen Universum und dessen langsamerer späteren Expansion beruhen.

Ob die Erkenntnisse aus den Experimenten am LHC auch hierzu etwas beitragen, bleibt offen, aber die Vorstellung, dass man die Fragestellungen des „ganz Großen“ am „ganz Kleinen“ beantworten kann, übt nicht nur auf die beteiligten Forscher eine große Faszination aus.

Wer vom Stand der modernen Physik einen einigermaßen verständlichen Eindruck gewinnen möchte und auch bereit ist, sich durch die Geschichte und die Details der Teilchenbeschleuiger – vor allem des LHC – zu kämpfen, dem sei dieses Buch zur Lektüre empfohlen.

Das Buch „Die Vermessung des Universums“ ist im S.Fischer-Verlag unter der ISBN 978-3-10-062806-0  erschienen, umfasst 490 Seiten und kostet 24,99 €.

Frank Raudszus

 

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