Nassim Nicholas Taleb: „Der Schwarze Schwan“

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Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse.

Ausgewachsene Schwäne sind weiß! Diese Erkenntnis hat sich in den Köpfen festgesetzt, auch wenn jemand mit statistischen Grundkenntnissen die Möglichkeit schwarzer Schwäne nicht völlig ausschließen würde. Die Sicherheit in der Beurteilung außergewöhnlicher Ereignisse basiert auf der so genannten „Gaußschen Glockenkurve“, die ein Maß für die Verteilung von Werten eines beliebigen Merkmals in der Natur darstellt. Nimmt man die Durchschnittsgröße eines Mannes mit 1,80 m an, so sinkt gemäß Gauß die Wahrscheinlichkeit, dass jemand größer oder kleiner ist, überproportional mit der Abweichung vom Durchschnitt. Kann man sich noch jemanden vorstellen, der 2,30 oder 1,30 m misst, so liegen 2,80 und 0,80 m schon jenseits des Vorstellbaren und 3,30 bzw. 0,3 m werden schon als aberwitzig empfunden. Die Messungen in der realen Wert stützen in nahezu allen Fällen diese Auffassung, d.h. man kann sie auf alle Erscheinungen anwenden, die „der Schwerkraft unterliegen“.

0812_schwarzer_schwanDa nun diese Statistik sich in allen Naturwissenschaften und im praktischen Leben bewährt hat und sich kein konkurrierendes Modell durchgesetzt hat, haben auch andere Wissenschaftsbereiche die Gauß-Verteilung übernommen, und hier setzt der Autor des vorliegenden Buches an. Dabei ist wichtig zu wissen, dass Taleb sich als Autodidakt, Pragmatiker und Empiriker versteht. Nachdem er jahrelang als Händler (Trader) an Börsen und in Banken gearbeitet hat, ist er über die Beschäftigung mit dem Unvorhersehbaren zum Philosophen und Mathematiker geworden. Noch heute übt er seinen Beruf als Finanzfachmann aus, wenn auch in eingeschränktem Umfang. Sein Hauptanliegen heute besteht jedoch darin, die Verkrustungen und Fehlentwicklungen im sozioökonomischen Bereich aufzudecken und zu entlarven. Doch nach seinem eigenen Eingeständnis ist dies ein langer, beschwerlicher Weg, weil ganze Branchen, Institute und eine Menge wissenschaftlicher Karrieren von den bisher üblichen und in einschlägigen Kreisen trotz ihrer nachweisbaren Misserfolge nicht ernsthaft in Frage gestellten Theorien und Verfahren abhängen.

Taleb hat in jahrelangen Beobachtungen des Finanzbereiches festgestellt, dass die Gaußsche Verteilung im sozioökonomischen Bereich nicht oder nur mit größter Vorsicht anwendbar ist, da dieser nicht der Schwerkraft unterliegt. Im Finanzsektor oder im sozialen Umfeld können sich Ereignisse wesentlich schneller und ungewöhnlicher entwickeln als in der physischen Natur. Ein Grund mag der ungebremste Informationsfluss in modernen Kommunikationsnetzen und die damit zusammenhängende positive Rückkopplung sein, doch Taleb verzichtet bewusst auf eine geschlossene Theorie, weil er genau hier den gefährlichen Ansatz sieht. Mit Popper verfolgt er die Falsifikationsstrategie, die von vornherein auf den positiven Beweis einer Theorie verzichtet, und stattdessen nur nach Widerlegungen sucht. Dahinter steht die Erkenntnis, dass ein einziger Gegenbeweis eine Theorie zum Einsturz bringen kann, jedoch hundert positive Beispiele noch keinen hinreichenden Beweis für ihre Richtigkeit liefern. Den aktuellen sozioöknomischen Wissenschaften wirft er jedoch gerade den Fehler vor, bestätigende Beispiele mit Beweisen zu verwechseln. Wenn dann auf der Basis solcher „Beweise“ Vorhersagen getroffen werden, muss das zwangsläufig schiefgehen. Taleb bringt verschiedene falsifizierende Beispiele – Gegenbeweise – in Gestalt nicht eingetroffener Vorhersagen bzw. krasser Fehleinschätzungen nahender Katastrophen wie dem Börsencrash 1987 oder den Finanzkrisen Ende der 90er Jahre.

Ein Grundübel sieht der Autor in der sogenannten „Platonität“ heutiger Wissenschaftler, die darin besteht, dass man sich – wie Platon – ein gedankliches Modell von der Welt macht, dem die Realität gefälligst zu entsprechen hat. Hinter der Platonität steht ihm zufolge die Sucht nach der eleganten, geschlossenen Weltformel, die zwar den Intellekt befriedigt, aber nicht unbedingt einer per se chaotischen Realität entsprechen muss. Und wenn dann die Realität zu stark abweicht, wird das Modell solange verfeinert, bis es die – bereits eingetretenen und nicht einkalkulierten – Katastrophen a posteriori erklärt. Diese Strategie der nachträglichen Welterklärung hält er für eine der größten Sünden der Intellektuellen und für eine Ausgeburt der Eitelkeit, die den schönen – eigenen! – Gedanken mehr schätzt als nackte Fakten. Taleb selbst hat im Laufe der Jahre vor allem im Finanzbereich eine Unmenge von Daten gesammelt und fordert, diese statt irgendwelcher theoretischen Modelle zur Grundlage etwaiger Vorhersagen zu machen, wobei er klarstellt, dass man die schwarzen Schwäne nie weiß machen, sondern sich nur auf ihr Erscheinen vorbereiten kann. Gerade die nicht mit Gauß abzubildende Verteilung der Wahrscheinlichkeit unerwarteter Ereignisse – Börsencrashs, 09/11 – macht eine seriöse Vorhersage unmöglich, wie die jüngere Vergangenheit deutlich zeigt.

Ein weiterer Grund für den Hang der Menschen, Modelle und handhabbare Wahrscheinlichkeiten zu konstruieren, liegt in der narrativen und der ludischen Verzerrung. Die erstere besteht laut Taleb darin, dass der Mensch sich für jedes Phänomen – Blitz und Donner, Naturkatastrophen, Kriege und Epedemien – eine Geschichte (narrare=erzählen) ausdenken muss, um die Information zu reduzieren und das Ereignis handhaben zu können. Das führt dann schnell zu Theorien, die nicht weiter hinterfragt oder durch – zufällig passende – Beispiele bestätigt werden. Die zweite Verzerrung basiert auf einer falschen Analogie zum Spiel (ludere=spielen). So bietet der Würfel für jede Zahl eine überschaubare Wahrscheinlichkeit, die die Illusion nährt, man könne die Zukunft mit einiger Sicherheit vorhersagen. Nicht umsonst sterben die Systemspieler beim Lotto oder Roulette nicht aus……

Zur weiteren Verdeutlichung seiner – nein, nicht: Theorien – Ausführungen führt Taleb die Begriffe Mediokristan und Extremistan ein. Mediokristan ist nicht als abwertende Metapher für Mittelmäßigkeit zu verstehen, obwohl es bisweilen bei gewissen Verfechtern dieser Welt durchschimmert, sondern als Bezeichnung der Welt, in der die Gaußsche Verteilung stimmt und die daher glaubwürdige Vorhersagen erlaubt. Dazu gehören die makroskopische Naturwissenschaft und die Technik. In Extremistan dagegen kann alles passieren, Gauß passt nicht mehr und Vorhersagen sind so gut wie unmöglich. Als Beispiel führt Taleb die Verteilung von Reichtum oder Buchverkäufen pro Autor an. In beiden Fällen gibt es einen algebraischen Durchschnitt aber beliebige Abweichungen – Bill Gates und Warren Buffet in dem einen, Joanne K. Rowling („Harry Potter“) im anderen Fall. Besonders die Verteilung verläuft nach ganz anderen Gesetzen als der Gaußschen Glockenkurve, eher nach dem Motto „The winner takes it all“. Bekannt ist auch die Tatsache, dass in den Medien und der Werbewelt nur der Erste zählt, der Zweite ist schon bald vergessen. Taleb betrachtet diese Beispiele jedoch nicht aus einem gesellschaftskritischen oder gar moralischen Blickwinkel; ihn interessiert im Rahmen dieses Buches lediglich die eklatante Abweichung von bekannten statistischen Verteilungsmodellen.

Der Autor geht noch auf weitere Aspekte der Wahrscheinlichkeit und der Vorhersagbarkeit ein und betritt dabei historisches, philosophisches und sogar mathematisches Gelände, wenn er versucht, seltenen Ereignissen oder außergewöhnlichen Konstellationen von der Größe von Städten bis zur Verteilung von persönlichem Vermögen über spezielle Exponenten ein zahlenmäßig erfassbares Gewicht zu verleihen. Dabei verzichtet er, seinem empirischen Ansatz treu bleibend, auf vorab definierte mathematischen Formel und gewinnt seine quasi-mathematische Darstellung nur aus dem verfügbaren Datenmaterial. Man kann darüber diskutieren, inwieweit sich aus diesem Ansatz belastbare Hypothesen – wir wollen hier bewusst nicht von Theorien oder Modellen reden – ergeben, muss jedoch zugestehen, dass er konsequent Behauptungen über die Vorhersagbarkeit von „schwarzen Schwänen“ vermeidet. Seine Formeln dienen lediglich der besseren Beschreibung der Phänomene.

Das Buch zeichnet sich – da von einem Pragmatiker geschrieben – durch einen leicht verständlichen und unmittelbaren Stil aus, der auf jede akademische Überhöhung verzichtet. Dabei verzettelt sich der Autor jedoch bisweilen in Seitenaspekten oder springt zwischen den einzelnen Themen und Perspektiven ein wenig erratisch hin und her. Der Theorieverzicht führt dann zu einem Mangel an Durchgängigkeit und Konsistenz. Diese Schwächen treten jedoch gegenüber der Konsequenz und Deutlichkeit, mit der er seine zentralen Thesen verzichtet, in den Hintergrund. Übrigens drückt er in dem Ende 2007 in englischen Original erschienenen Buch an mehreren Stellen seine ernsthaften Befürchtungen aus, dass die internationalen Banken wegen ihres falschen – weil letztlich auf Gaußscher Statistik beruhenden – Ansatzes bei der Risikoabschätzung einen riesigen Berg an Risiken aufgebaut hätten, den sie nicht nur nicht beherrschten sondern überhaupt nicht erkannt hätten. Dem ist aus der Sicht vom Dezember 2008 nichts hinzuzufügen.
Das Buch ist im Hanser-Verlag unter der ISBN 978-3-446-41568-3 erschienen und kostet 24,90 €.

Frank Raudszus

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