Rafael Chirbes: „Krematorium“

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Roman über das heutige Spanien aus der Perspektive exemplarischer Archetypen.

0808_krematoriumEin Roman über einen einzigen Tag einiger ausgewählter Bewohner einer Stadt zu Beginn eines neuen Jahrhunderts. Eine Trauerfeier spielt eine zentrale Rolle, und die Welt wird aus der monologischen Perspektive der Protagonisten geschildert. Diese literarische Konstellation weckt natürlich Assoziationen wie „Leopold Bloom“, „Dublin“ und „Molly-Dialog“. Doch hier geht es bei aller – gewollten? – Ähnlichkeit nicht um James Joyces „Ulysses“, sondern um den neuen Roman des zeitgenössischen Spaniers Rafael Chirbes über die Befindlichkeit Spaniens an einer seiner sensibelsten Örtlichkeiten, der touristisch geprägten Mittelmeerküste. Der Titel lässt sich durchaus symbolisch auffassen. Zwar verweist er vordergründig nur auf die Tatsache, dass ein Familienmitglied gerade gestorben ist und sich – wie auch die Trauernden – auf dem Weg ins Krematorium befindet, man kann ihn aber auch durchaus dahingehend interpretieren, dass hier alte Werte, Einstellungen und Lebensentwürfe zu Grabe getragen werden oder – ein passenderes Bild – verbrennen.

Im Mittelpunkt des Romans steht Rubén Bertomeu, Architekt und erfolgreicher Bauunternehmer, bereits jenseits der siebzig und noch immer aktiv. Bereits einmal verwitwet, hat er in zweiter Ehe die nahezu fünfzig Jahre jüngere Monica geheiratet, die nun als Aushängeschild seiner Altmännerpotenz dienen soll – Phillip Roth lässt grüßen – und dabei selbst einen ungeahnten gesellschaftlichen Aufstieg erlebt. Denn Rubén hat im Laufe der letzten dreißig Jahre die halbe Küste mit Ferienwohnungen, Hotelanlagen und ähnlichen zumindest diskussionswürdigen Immobilien zugebaut. Auch er war einmal ideologiegesättigter und idealistischer Student mit dem Traum, menschenwürdige Häuser und Wohnungen für das „Proletariat“ – was immer das ist – zu bauen. Doch im Laufe der Zeit ist er zum Pragmatiker geworden, dem es vor allem um die Tat und um den Erfolg geht. Auf der Fahrt vom Krankenhaus, wo gerade sein jüngerer Bruder Matías an Krebs gestorben ist, geht er seinen Erinnerungen an den Verstorbenen, die gemeinsamen Träume und die Enttäuschungen nach.

Rubéns Tochter Sylvia, selbst schon gestandene Vierzigerin und damit wesentlich älter als ihre Stiefmutter Monica, restauriert als studierte Kunsthistorikerin alte Gemälde und Fresken, ist mit einem Literaturprofessor verheiratet und hat zwei halbwüchsige Kinder. Sie lebt in der ambivalenten Welt einer finanziell blendend gestellten Frau der Oberschicht – Vater Rubén finanziert den Lebensstil, den sich die beiden Angestellten nicht leisten könnten – mit dem in der Wolle links gefärbten Weltbild der intellektuellen Künstlerin. Wie selbstverständlich sieht sie die berufliche – will sagen gesellschaftliche – Laufbahn ihres Vaters sehr kritisch, lastet ihm die Verschandelung der Umwelt und den Verrat an den Idealen der Jugend an und betrachtet auch die zweite Ehe mit der ungeliebten Konkurrentin – denn das ist Monica – als äußerst unpassend. Auch Sylvia befindet sich auf der Autofahrt vom Krankenhaus zum Krematorium, wenn auch mit anderen Zwischenstationen als ihr Vater. Auch sie erinnert sich anlässlich des Todes ihres Onkels an frühere Zeiten und vor allem an Matías, den sie als Kind und Jugendliche wegen seiner Spontaneität und Phantasie geliebt hat. Doch gelten ihre Gedanken weniger dem Dahingeschiedenen als vielmehr ihrem eigenen Leben, das in einer Art Einbahnstraße vor sich hin läuft. Natürlich hält sie sich einen jüngeren Liebhaber, ohne auch nur im Traum daran zu denken, seinetwegen ihre Ehe aufzugeben. Es gehört einfach zu ihrer Selbstachtung, in ihrem Alter noch einen Liebhaber fesseln zu können. Ihre Gedanken kreisen um dieses Verhältnis, um die Oberflächlichkeit ihrer ungeliebten Stiefmutter, um ihre heranwachsenden Kinder, und sie kokettiert gerne mit ihrer Verachtung für das kapitalistische Welt- und Berufsbild ihres Vaters. Eine Trennung von ihrem Mann erwägt sie nur hypothetisch, doch die Abneigung reicht dazu nicht aus oder ist eigentlich gar nicht vorhanden. Mangels einer attraktiven Alternative erhält sie den im Allgemeinen recht angenehmen Zustand aufrecht.

Matías, der gerade Verstorbene, bildet in diesem Roman das „Auge des Sturmes“. Alle Gedanken der Hinterbliebenen drehen sich – zwangsläufig so kurz nach dem Ableben – um ihn, und jeder zieht im Stillen ein Resümee des verblichenen Lebens. Während Sylvia einem warmherzigen Onkel in einer Art familiärer Nostalgie nachtrauert, ohne den Onkel einer nachträglichen Analyse zu unterziehen, geht Rubén, seiner Art als methodisch denkender Geschäftsmann treu bleibend, dem Leben seines Bruders noch einmal nach. Schon früh begeisterte sich Matías für soziale und revolutionäre Theorien, die damals sein älterer Bruder noch schürte, doch im Gegensatz zu Rubén schwor er den Ideologien nie ab. Jede gesellschaftspolitische Welle durchlebte er mit höchstem verbalen Einsatz. So war er der konsequenteste aller Marxisten, bis hin zu dem ominösen Satz „Wo gehobelt wird, da fallen (Millionen) Späne“, und schwenkte nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus ins ökologische Lager, dessen Theorien er ebenso vehement verfocht wie vormals die linken Theorien. In Rubéns Erinnerungen bewegte er sich dabei jedoch nie von der Theke der einschlägigen Bars weg, und der reichliche Alkoholkonsum gehörte für ihn zu allen Revolutionen dazu. In seinem Leben hat er nie etwas Konkretes zustande gebracht, war kein aktives Mitglied einer Partei und betätigte sich auch nicht an Bürgerinitiativen oder anderen Oppositionsgruppen. In Rubéns Erinnerungen kristallisiert sich der Archetypus des reinen Intellektuellen heraus, der nur redet, nie handelt, und seine Reden schnell den geänderten Weltläufen anpasst. Wichtig ist, immer auf der richtigen Seite zu stehen und die anderen von dieser hohen Werte aus zu benoten. So hat Matías auch seinen Bruder mit zunehmendem Alter immer kritischer gesehen, so als sei dieser quasi zur revolutionären Tat verpflichtet, die er, Matías, nie auch nur ansatzweise realisiert hat. Fast könnte man sagen, dass Matías nicht unbedingt das „Wie“ von Rubéns Aktivitäten, Umweltverschandelung und Touristenbeton, sondern das „Was“, das Umsetzen von Vorstellungen in die Tat selbst kritisiert hat. Der zur Tat unfähige Intellektuelle neidet dem Tatmenschen die Fähigkeit zum Eingehen eines Risikos und verkleidet diesen Neid in den jeweils politisch korrekten Vorwurf. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch noch, dass Matías seine zwei Frauen ausgesprochen schlecht behandelt, betrogen und verlassen hat, mit dem Erfolg, dass diese seinen Tod unter Tränen begleiten, während man dem „ordungsgemäß verwitweten“ Rubén die Wiederverheiratung allgemein übelnimmt.

Chirbes stellt noch eine zweite markante Oppositionsfigur neben den – in der Realität – dominierenden Rubén. Der Schriftsteller Brouard gehörte einst zum engeren rebellischen Kreis um Rubén, zu dem noch ein Maler gehörte, der sich später das Leben nahm. Ähnlich wie Matías ist jedoch auch Brouard im Alter gescheitert. Sylvias Ehemann Juan schreibt seine Biographie und entdeckt bei den Gesprächen zunehmend die charakterlichen und intellektuellen Schwächen seines Gegenübers. Der alternde, alkoholkranke und kettenrauchende Brouard ist mehr dem eigenen Geschlecht als Frauen zugewandt, lässt sich von einem jüngeren Lebensgefährten aufopferungsvollen pflegen, steigt aber ungeniert anderen jungen Männern nach. Seine biologischen Funktionen leiden bereits unter starken Ausfällen, was seinen Lebenswandel jedoch nicht beeinträchtigt. Er geht sehenden Auges aufs Grab zu, jedoch in der Pose des großen Literaten, der die Abscheu vor der schlechten Welt nur mit Whiskey aushalten kann. Alkohol als Adelsmerkmal des Intellektuellen. Auch er verachtet natürlich seinen ehemaligen Weggefährten Rubén abgrundtief und verkauft ihm doch sein eigenes Grundstück, damit er selbst angenehm leben und Rubén seine nächste Ferienanlage bauen kann. Verbal jedoch beteuert Brouard Juan gegenüber seine hohen Ideale oder besser die Unmöglichkeit, diese in der schlechtesten aller Rubén-Welten umzusetzen. Juan jedoch notiert nüchtern, dass sich Brouards literarischen Werke längst überlebt haben und keine Neuauflage erleben werden, und zweifelt an dem Sinn seiner biographischen Tätigkeit.

Ein eher – bewusst – schlichtes Porträt zeichnet Chirbes von Monica, der Aufsteigerin der Bertomeu-Sippe. Sie freut sich ihres gesellschaftlichen Aufstiegs, lebt völlig harmonisch in der internationalen Markenwelt und kann durchaus die Wirkung ihres Auftretens berechnen und genießen. Sie liebt ihren Mann zwar nicht im erotischen Sinne, aber achtet ihn vor allem als Garant ihres finanziellen Wohlergehens und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung. Geschickt pflegt sie daher ihre Beziehung und versetzt sogar ihrer – älteren! – Stieftochter mit einer Schwangerschaft einen schweren Schlag. Chirbes beschreibt Monica als Archetypus des Aufsteigers – oder beser der Aufsteigerin – aus kleinen Verhältnissen, die ihr Kapital nüchtern und emotionslos zu nutzen weiß und sich konsequent in der einmal errungenen Position mit allen Mitteln hält. Politischer oder intellektueller Überbau sind ihr gleichgültig, sie will an den Fleischtöpfen sitzen.

Chirbes beschreibt die verschiedenen Typen ganz ohne Aggression und Polemik. Er beobachtet und beschreibt, und daraus ergibt sich zwangsläufig die Gesellschaftskritik. Doch im Gegensatz zum Klappentext geißelt Chirbes keineswegs mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Symptome und Wurzeln des Kapitalismus. Er schildert zwar die Zustände im Bauwesen und all die mehr oder minder kriminellen Methoden, mit denen auch Rubén seinen Erfolg erzielt hat. Doch weit davon entfernt, nur diesen Typus des tätigen Pragmatikers als Kriminellen und Ausbeuter zu beschreiben, gesteht er ihm in der Figur des Rubén sogar eine Zielstrebigkeit und eine immanente Glaubwürdigkeit zu. Rubén redet nie anders als er handelt. Er steht zu seinem Pragmatismus, auch zu seinen bisweilen fragwürdigen Methoden, gesteht sich selbst ein, früher einmal nicht besonders legal agiert zu haben, handelt jedoch nur aus sich heraus und zieht nur seinen persönlichen Erfolg als Bewertungsmaßstab heran. Die Intellektuellen in Gestalt von Matías und Brouard dagegen kommen wegen ihrer Heuchelei, ihrer Selbstgerechtigkeit, ihrer persönlichen Unglaubwürdigkeit und ihres tatenlosen Verbalrevolutionärtums besonders schlecht weg. Rubén verändert und bewegt die Welt, wenn auch auf fragwürdige Art und Weise, Matías und Brouard jedoch erschöpfen sich in moralisierenden Reden und populistisch wirksamen Verurteilungen, ohne ihren Worten je irgendwelche Taten folgen zu lassen. Ja, sie strafen ihre hochfahrenden Worte sogar durch ihre persönliche Lebensführung Lügen.

Die Generation dazwischen – Sylvia und Juan – steht am Scheidewege, hat sich eher in die beobachtende Rolle zurückgezogen, um unangreifbar zu werden, und leidet unter dem selbst auferlegten Handlungsverzicht und – vor allem – unter der durch behütete Erziehung geförderten Risikoscheu. Von unten jedoch naht mit Monica die Generation der Aufsteiger, die keine gesellschaftlichen Tabus kennt und sich konsequent in den Kreisen der Arrivierten einnistet, auch wenn sie nicht die ungeschriebenen Aufnahmebedingungen erfüllt. Erotische Attraktivität an beiden Ufern des Lebensflusses ist hier das Erfolgsrezept, das den Sprung über auch heute noch existente Klassengrenzen ermöglicht. Und diese Generation hat aufgrund der fehlenden Skrupel eines kulturellen Überbaus die Möglichkeit, sich schnell und effizient in den neuen Kreisen festzusetzen. Für die privilegierten Mitglieder der herrschenden Kaste werden damit feststehende und liebgewordene Sicherheiten in Frage gestellt. Monica jedenfalls wird Sylvia einen wesentlichen Teil ihres Erbes streitig machen und steht damit nur als Prototyp einer neuen Generation.

Chirbes hat das gesamte Buch als eine Reihe von inneren Monologen gestaltet, die eine vollständig subjektive Perspektive aus der Position des jeweiligen Protagonisten eröffnet. Er verzichtet damit zwar auf die scheinbar allmächtige Objektivität des Autors, gewinnt dadurch jedoch eine authentische Darstellung der Welt, wie sie sich den in ihr lebenden Menschen darstellt. Voraussetzung dafür ist allerdings die Fähigkeit, sich in verschiedene Charaktere hineinzuversetzen. Über diese Fähigkeit verfügt Chirbes jedoch in hohem Maße. Seine inneren Monologe sind von höchster Intensität und Wahrhaftigkeit, was das Denken der einzelnen Personen betrifft. Diese Wahrhaftigkeit bezieht sich nicht unbedingt auf die moralisch-ethische Wertung des jeweils Gedachten, sondern lediglich auf die Tatsache, dass ein Mensch sich und seine Umwelt auf diese Weise sieht. Chirbes hat seinen Joyce offenbar gründlich gelesen und dabei viele Anregungen gewonnen. Doch sein Buch gewinnt dabei ein solches Maß an Eigenständigkeit und aktueller Authentizität, dass der „Ulysses“ höchstens als Ideengeber und nicht als Vorlage im Sinne eines heimlichen Plagiats zu sehen ist.

Das Buch ist im Verlag Antje Kunstmann unter der ISBN 978-3-99987-521-9 erschienen und kostet 22 Euro.

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