Das Staatstheater Darmstadt präsentiert die Uraufführung von Urs Widmers „Das Ende des Geldes“

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Uwe Zerwer (Der Banker), Hubert Schlemmer (Der Minister), Pao Su Chiang (Ein Chinese)

…. noch einmal davongekommen…

Das Staatstheater Darmstadt präsentiert die Uraufführung von Urs Widmers „Das Ende vom Geld“
Die Situation kennt man als klassischen Ausgangspunkt von Kriminalromanen, zum Beispiel von Agatha Christie: eine Gruppe von Personen, miteinander mehr oder minder bekannt, trifft sich an einem abgelegenen Ort und sieht sich dort plötzlich aufgrund eines Unwetters von aller Welt abgeschnitten, einschließlich des Ausfalls aller zivilisatzorischen Errungenschaften wie Telefon und Elektrizität. Damit beginnt dann üblicherweise eine gegenseitige Zerfleischung der auf diese Weise auf sich selbst Zurückgeworfenen.

Uwe Zerwer (Der Banker), Gerd K. Wöfle (Der Unternehmer), Christina Kühnreich (Die NGO-Delegierte)Der Schweizer Urs Widmer hat diese Konstellation von einer allgemein menschlichen auf die aktuelle politische Situation übertragen. In seinem neuen Einakter „Das Ende vom Geld“ lässt er die Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums in Davos am Tage der hoffnungsschwangeren Rückreise aufgrund apokalyptischer Wetterverhältnisse im Hotel festsitzen, wobei er die Bedingungen noch verschärft: wie auf einen geheimen Befehl hin stürzt das in der Anfangsszene gemächlich und routiniert seinen Pflichten nachgehende Personal panikartig aus dem Hotel. Lediglich der Hoteldirektor (Tom Wild) bleibt, kommt jedoch nur sporadisch aus dem höheren Stockwerk herunter und verbreitet hinhaltende Botschaften wie ein Beamter aus Kafkas Romanen. Die überstürzte Flucht des Personals erzeugt gleich zu Beginn eine Atmosphäre von Bedrohung und Angst. Der bewusste Verzicht auf jegliche Erklärung – vage ist vom Wetter die Rede – wendet die Bedrohung ins Unheimliche, vom Menschen nicht Kontrollierbare. Damit spielt Widmer von Anfang an auf die These an, dass nur wenige Experten – und selbst diese nicht vollständig – überhaupt noch verstehen, was in der Finanzwelt geschieht und welche Risiken in ihr gären. Was sich in den letzten Jahren in der globalisierten Geldwelt ereignet hat, nimmt die Qualität einer Horrorgeschichte an, deren Fortgang niemand mehr vorhersagen kann.

Heinz Kloss (Der Bischof), Christina Kühnreich (Die NGO-Delegierte)Widmer lässt das ganze Personal der herrschenden Kreise aufmarschieren. Dabei bietet ihm der Weltwirtschaftsgipfel in Davos natürlich einen hervorragenden weil nachvollziehbaren Ausgangspunkt, treffen sich doch dort Wirtschaftsführer, Bankiers, Politiker und Wissenschaftler zu einem wahren Tanz um das goldene Kalb. Widmer lässt sie alle nacheinander und einzeln die Treppe hinunter ins Hotelfoyer treten, jeder in Reisekleidung und mit dem Mobiltelefon am Ohr bereits die nächsten Aktionen einleitend: zuvörderst und in exponiertester Stellung der Banker (Uwe Zerwer), der sich hier in seinem wahren Element fühlt und sich als einzigen Experten und „Macher“ sieht. Nach ihm kommen all die, denen er „keine Ahnung“ attestiert: der Unternehmer (Gerd K. Wölfle), der ihm dank seiner Machtfülle und seines „realen“ Hintergrundes noch am ehesten das Wasser reichen kann und das auch weiß; dann der Wissenschaftler (Matthias Kleinert), der stolz ist, dabei sein zu dürfen, und seine Anbiederung an die Mächtigen nur mühsam kaschieren kann; der Minister (Hubert Schlemmer) aus Berlin – es geht hier durchweg um deutsche Protagonisten! – versucht, allen Seiten gerecht zu werden und dabei stets die Auswirkungen auf die nächste Wahl zu bedenken. So erklärt er dem ebenfalls hier festsitzenden Chinesen (Pao Su Chiang aus Mei Hong Lis Tanztruppe), dass Berlins politische Betonung der Menschenrechte in China eher wahltaktisch begründet und kein unüberwindbares Hindernis für gute Wirtschaftsbeziehungen sei. Der Bischof (Heinz Kloss) trägt die Würde seines Ornats vor sich her und spielt den „pater familiae“ bis zu dem Moment, wo alle im buchstäblichen Sinne die Hosen hinunterlassen.
Diesem männlichen Personaltableau stehen zwei Frauen gegenüber: die NGO-Vertreterin (Christina Kühnreich) sieht in dem Banker den natürlichen Feind und geht ihn entsprechend an, wobei sie vergeblich versucht, die anderen auf ihre Seite zu ziehen. Zwar scheint sie aus einer – wie auch immer definierten – objektiven Sicht die besseren Argumente zu haben, bewegt sich letztlich jedoch ebenfalls in vornehmlich ideologischen Bahnen. Die andere Frau ist die Geliebte des Bankers (Diana Wolf), der jedoch in ihrer Anwesenheit mit seiner Frau – „Maus“! – telefoniert und die Geliebte dabei mit einer Handbewegung davon scheucht. Diese Konstellation ordnet dem Banker von vornherein alle üblen Eigenschaften zu. Nicht nur zerstört er aus gewissenloser Gier das globale Finanzwesen, sondern er ist auch privat ein mieser Charakter.
Das ist zwar eine Zuspitzung der allgemeinen Sicht auf die Bankenwelt und grenzt an Klischeebildung, aber ist insofern zu akzeptieren, als es Widmer sowieso nicht um einen rationalen Diskurs über die Ursachen der Finanzkrise geht. Er will vielmehr die Unfähigkeit einer herausgehobenen Machtelite zeigen, im existenziellen Notfall gemeinsam zu handeln und auftretende Probleme zu lösen. Diese nahen nämlich in der gegebenen Situation ziemlich schnell. Die Flucht des Personals und das winterliche Unwetter lassen die Verpflegung in kürzester Zeit versiegen. Diese Annahme ist zwar nicht unbedingt realistisch aber aus dramaturgischen Gründen akzeptabel. Also hungert die eingeschlossene Gemeinde dumpf vor sich hin, wobei der Professor in seiner Not sogar eine Rose aus dem Blumentopf zieht und sie verzehrt. Auch die anderen suchen in Mobiliar und sogar unter dem Teppich nach Essbarem. Vorher haben sie den Papierkorb ausgeleert und sich über dessen leider ungenießbaren Innereien gestürzt. Die ganze Gruppe – einschließlich der „politisch korrekten“ NGO-Vertreterin – verliert mit zunehmendem Hunger immer weiter ihr zivilisatorisches Niveau, und am Ende steht wieder einmal der ernsthafte Vorschlag des Kannibalismus. Einer muss sich zum Überleben der anderen opfern, und der Banker – wieder als Bösewicht vornweg – schlägt dafür ausgerechnet seine Geliebte vor.

Heinz Kloss (Der Bischof), Matthias Kleinert (Der Professor), Gerd K. Wöfle (Der Unternehmer), Christina Kühnreich (Die NGO-Delegierte), Uwe Zerwer (Der Banker), Pao Su Chiang (Ein Chinese), Diana Wolf (Die Geliebte des Bankers)So trudelt die Gemeinde in steilen Spiralen den moralischen Abhang hinunter, und der herbeigerufene Koch (Tobias Gondolf) präsentiert nicht nur sein Messer zum Schlachtfest sondern hält den nach Menschenfleisch Hungernden eine längere zynische Rede über die Auflösung der Zivilisation und das Ende der Zeiten, das sich angeblich außerhalb des Hotels gerade anbahnt. Zum Schlachtopfer kommt es zwar nicht, aber die existenzielle Not und die Aussicht auf den „jüngsten Tag“ setzt die letzte moralische Hemmschwelle außer Kraft und die sexuellen Triebe frei. Dass es ausgerechnet der Bischof ist, der diesen Teil des menschlichen Desasters einleitet, ist wegen des Zölibats folgerichtig und nebenbei auch als nicht so zarter Hinweis auf die sexuellen Skandale in der katholischen Kirche zu verstehen. Wenn auch nicht alle Männer an dem widerlichen Treiben teilnehmen, betrachten sie es doch mit distanzierter Gleichgültigkeit, was sie nicht weniger schuldig werden lässt.
So sind alle männlichen Beteiligten am Ende auf der untersten zivilisatorischen Ebene angekommen, fühlen sich dabei jedoch aufgrund der Situation im Recht. Jeder möchte kurz vor dem – vom Koch prophezeiten – Ende noch einmal etwas genießen, was ihm bis dahin nicht vergönnt war. In diesem Zusammenhang schreibt Widmer auch den Intellektuellen – hier vertreten durch den „Professor“ – noch eine Widmung ins Stammbuch: der Vertreter des Geistes, mangels Macht und Geld nie in unbeschränkten Genuss erotischer Freuden gekommen, holt dies nun gehörig nach, da nach dem Weltuntergang mit Strafe nicht mehr zu rechnen ist.
Widmer beendet diesen Albtraum dann plötzlich und unerwartet, indem er die Handynetze wieder funktionieren und das Unwetter enden lässt. Als ob nichts gewesen wäre, greifen alle wieder zum Telefon, setzen ihre unterbrochenen Gespräche fort und organisieren in emsiger Hektik ihre Rückreise und die nächsten geschäftlichen Aktivitäten. Sie sind noch einmal davongekommen und können so weitermachen wie bisher.
Urs Widmer hat jedoch in diese groteske Situationsbeschreibung noch eine andere Ebene eingeschoben: laut Text zieht von Zeit zu Zeit eine Schafherde mitten durch die Szene – ohne Bezug zur Lokalität des Hotels oder zum Geschehen. Regisseur Michael Helle interpretiert diese Schafherde als die „schweigende Mehrheit“ der Normalbevölkerung, die den Machenschaften verständnislos bis apathisch zuschaut, und macht daraus eine Gruppe von Menschen mit Schafsköpfen. Mitten im Dialog verdunkelt sich der Raum, die Darsteller erstarren zu einem „gestellten Bild“, und die Schafsgemeinde zieht wortlos wie ein Menetekel durch den Raum. Die Protagonisten sehen es, nehmen es aber nicht zur Kenntnis, selbst als einmal ein kleines Schaf zurückbleibt und nach den Wiederaufleuchten des Lichtes von seiner Mutter geholt werden muss. Die Botschaft ist eindeutig: die abgehobenen Machteliten sehen zwar die normale Bevölkerung noch, nehmen sie aber als gleichwertigen Gesprächspartner nicht mehr wahr. Ihren Vorbeimarsch nimmt man indigniert zur Kenntnis und wartet auf sein Ende. Diskussionen oder auch nur fragende Mienen erübrigen sich. Auch die Vetreterin der politisch so korrekten NGOs nimmt Widmer von dieser kollektiven Ignoranz nicht aus. Will sagen: Ideologie ist wichtiger als lebende Menschen.

Bühnenbildner Achim Rönne hat auf der Bühne das Foyer eines Allerwelt-Hotels der gehobenen Klasse installiert, das in seiner globalisierten Eintönigkeit an Hannah Ahrends Begriff der „Banalität des Bösen“ erinnert. Die großen Katastrophen oder Untaten ereignen sich selten in großartigem und oft in spießigem Ambiente. Das passt auch zu dem kurzen Dialog über „das Böse“ zwischen Banker und Bischof, das sich nicht zu einem intellektuellen Höhenflug entwickelt sondern in den Niederungen der kirchlichen Dogmen verharrt – der Banker hat keine.
Die Darsteller interpretieren die lähmende „Nicht-Kommunikation“ der Eingeschlossenen mit hoher Präzision und Dichte. Regisseur Helle lässt das Ensemble in zwei Situationen minutenlang schweigen. In dieser apathischen Leere zählen nur die kleinen Übersprunghandlungen – das Trommeln der Finger auf der Sessellehne, das Lümmeln auf dem Sessel, das sinnlose Knabbern an irgendwelchen Gegenstände – sowie die Gestik und Mimik der Darsteller. Ohne Worte eine unerträgliche Spannung aufzubauen und zu halten ist eine besondere Leistung, und die gelingt den Darstellern gerade wegen ihrer scheinbar lethargischen Haltung, die nur dünn die nackte Angst übertüncht, auf überzeugende Weise. Uwe Zerwer besetzt dieses Mal wieder einmal die dankbare Rolle des großen Bösewichts und nutzt sie für zynische, arrogante und zutiefst amoralische Auftritte. Alle anderen Rollen sind auf ihn fixiert, bewusst, da in dieser (Finanz-)Welt der Banker wie ein Fetisch im Mittelpunkt steht. Heinz Kloss gibt den Bischof als tönernen Popanz konkreter Selbstgerechtigkeit und vermeintlicher Würde, die dann ganz plötzlich wie ein Kartenhaus beim ersten Windstoß in sich zusammenfällt. Matthias Kleinert ist ein alerter Professor, der die Wichtigkeit der „echten“ Machtmenschen nachspielen muss, um bei ihnen zu punkten, und Hubert Schlemmer spielt den Minister als undurchsichtigen Taktierer, der sich durchlaviert und eher gar nichts sagt als sich mit irgendeinem der Mächtigen anzulegen. Tom Wild ist ein aalglatter Hoteldirektor, der tatsächlich wie eine undefinerbare Figur eines Kafka-Romans wirkt, und Gerd K. Wölfle verleiht dem Unternmehmer ein wenig die Statur und den Instinkt eines Wolfes – nomen es omen. Tobias Gondolf verbreitet als Koch mit Fleischermesser kaltes Grausen und fährt wie ein Racheengel durch die Gesellschaft, während Pao Su Chiang nicht nur mit seinen chinesischen Beiträgen sondern auch mit seiner Tanzeinlage vor dem angekündigten Schlachtopfer für einen auflockernden Kontrast sorgt.
Die beiden Frauen haben in diesem Stück die einzigen uneingeschränkt positiven Partien, wenn auch mehr als Opfer denn als Agierende. Christina Kühnreich spielt die NGO-Vertreterin als engagierte und verständlicherweise aggressive Frau, die aber gegen die Männerwelt nichts ausrichten kann, und Diana Wolf vertritt dagegen die angepasste Variante der Banker-Geliebten, die ihrem Liebhaber trotz schlechtester Behandlung bis zum Schluss treu bleibt. Nur einmal schreit sie ihren ganzen Frust als Geliebte heraus aber ändert damit nichts. 
Das Premierenpubluikum zeigte sich beeindruckt und bedachte Ensemble, Regie und auch den Autor mit kräftigem Beifall und einzelnen „Bravo“-Rufen, die vor allem den Darstellern galten.
Frank Raudszus
Weitere Aufführungen am  3., 13., 21. und 27.4.2012 Alle Fotos © Barbara Aumüller
 

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