Die Kammerspiele des Staatstheaters Darmstadt spielen Bettina Erasmys Komödie „Dass wir Geister sind“

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Sechs Personen diskutieren mit ihrem Autor

Die Kammerspiele des Staatstheaters Darmstadt spielen Bettina Erasmys Komödie „Dass wir Geister sind“
Die Ähnlichkeit ist verblüffend, obwohl der Begriff „Plagiat“ wegen der unterschiedlichen Handlung fehl am Platze wäre: der Italiener Luigi Pirandello stellte vor knapp hundert Jahren in seinem Thaterstück „Sechs Personen suchen einen Autor“ die Protagonisten eines unvollendeten Familiendramas in den Mittelpunkt, die verzweifelt einen Autor suchen, um ihr Leid der Öffentlichkeit mitteilen zu können.

Andreas Manz (Frieder), Karin Klein (Britta), hinten: Stefan Schuster (Karl), Andreas Vögler (Malte), Katharina Uhland (Anne)Ähnlich baut Bettina Erasmy ihr neues Stück auf: hier geht es ebenfalls um sechs Personen, die eine erweiterte Familie bilden. Doch sie erscheinen nicht als „fiktiv lebende“ Personen einer dramaturgisch durchgestalteten Geschichte sondern als Projektionen der Autorin, die sich mit einem neuen Theaterstück beschäftigt und in Gedanken die einzelnen Personen durchgeht. Dieser Ansatz wird gleich zu Beginn klar, wenn die Autorin (Anne Hoffmann) im unverkennbaren Aufzug einer intellektuellen Künstlerin – schwarzer Hosenanzug und Umhang, Kräusellöckchen und Zigarette – mit abgehoben-denkerischer Attitüde und leicht eingezogenen Wangen auf die Bühne schlendert, um dort ihren Gedanken über das Theater und die Schreiberei nachzugehen. Dabei betreibt Bettina Erasmy in Gestalt dieser Figur erst einmal ein wenig Nabelschau und berichtet über die Schwierigkeiten und sonstigen Merkmale des Schreibens sowie die Befindlichkeit einer Autorin.

Die Bühne der Kammerspiele ist zu einem gähnend leeren Raum mit weißen Wänden umgestaltet worden. Eine Stapel großer Kartons lässt an einen Umzug denken, doch der spielt in den Gedanken der kalkuliert-kapriziös an ihrer Zigarette ziehenden Autorin keine Rolle, bis die Kartons zu wackeln beginnen. Nacheinander fallen die einzelnen Personen der Handlung wie Geburtstagsgeschenke aus den Kartons, schütteln sich und beginnen unter der aufmerksamen Beobachtung ihrer Autorin mit dem Spiel.

Simon Köslich (Klaus), Stefan Schuster (Karl), Andreas Vögler (Malte), Andreas Manz (Frieder)Tatsächlich geht es um einen Geburtstag, nämlich den dreißigsten von Anne (Katharina Uhland), die sich heute mit Malte (Andreas Vögler) verloben will. Weiterhin sind noch Annes Bruder Karl (Stefan Schuster) sowie Britta (Karin Klein) und Frieder (Andreas Manz) aus den Kartons gekrochen. Britta und Frieder sind ein in ihren kleinen Gehässigkeiten und permanenten Machtkämpfen gut aufeinander eingespieltes Ehepaar und Eltern von Klaus, mit dem sich Anne auf den Tag genau vor zwei Jahren verloben wollte. Doch während die Verlobungsgemeinde bei Grill und Bier auf den Bräutigam wartete, verunglückte dieser mit seinem Auto tödlich. Natürlich kommt diese Duplizität der Dinge zur Sprache, und Britta verfällt daraufhin in Erinnerungen an ihren Sohn, ist für die konkrete Gegenwart – es geht schließlich um Annes neuerliche Verlobung – kaum noch ansprechbar. Sie lebt nur noch rudimentär in der Welt der Mitmenschen und folgt lieber ihren Assoziationen und Befindlichkeiten als den Fragen und Bedürfnissen ihrer Umgebung. Ihr Mann Frieder hat sich ebenfalls partiell in eine eigene Traumwelt zurückgezogen. Zwar gleitet er nicht in Erinnerungen ab und folgt auch noch weitgehend den Bemerkungen und Anregungen seiner Umwelt, doch bei jeder Gelegenheit verfällt er einer geradezu manischen Vorliebe für statistische Daten. Ob es um die letzten Straßenbahn vor fünfzig Jahren in Hamburg oder andere zusammenhangslose Wissenselemente geht, er betet sie alle herunter. Bei ihm hat der Tod seines Sohnes offensichtlich dazu geführt, dass er sich mit der Lektüre beliebiger Bücher buchstäblich die Érinnerung an seinen Sohn aus dem Kopf getrieben hat.

Die beiden jungen Männer fühlen sich in dieser Konstellation alles andere als wohl. Bei Malte ist das verständlich, da ihm die dauernde Erinnerung an seinen Vorgänger auf die Nerven geht. Auch er leidet unter einem notorischen Sprechzwang. Aus seiner Zeit als Marktforscher zitiert er bei jeder sich bietenden Gelegenheit irgendwelche Umfrageergebnisse, die weder etwas mit der Situation zu tun haben noch die anderen interessieren. Angesichts der latent aggressiven Stimmung gerät er dabei natürlich mit Frieder und vor allem mit dem aufbrausenden Karl aneinander. Diesem geht es ähnlich: er hängt in der gegebenen personellen Konstellation ohne „Hausmacht“, sprich Partner, alleine in der Luft und versucht, diesen Nachteil durch brüderliche Intimitäten mit Anne zu kompensieren. Die jedoch interessiert sich offensichtlich für nichts und niemanden so richtig und zieht sich verpielt maulend in eine Ecke zurück. Anscheinend macht auch ihr die Erinnerung an ihren ersten Verlobten zu schaffen, und die Situation wächst ihr zunehmend über den Kopf.

In diese etwas unkoordinierte, eigentlich nur aus unzusammenhängenden Gesprächsfetzen bestehende Nicht-Handlung mischt sich immer wieder die Autorin ein. Die Dialoge bestehen jedoch nicht aus dramaturgischen Einwürfen, die eine eindeutige Beziehung zwischen realer Autorin und fiktiven Figuren bestätigen würden, sondern die Autorin spricht mit den Personen der Handlung, als wäre sie Teil der Handlung. Damit zeigt Bettina Erasmy, dass die handelnden Personen und ihre Dialoge sich mehr oder minder im Kopf der Autorin zu formen beginnen. Die Protagonisten sind noch Rohmaterial und ihre Charaktere noch nicht durch ein strenges Handlungsgerüst festgelegt. Sie laufen sozusagen von der Bühne zur Klärung durch den Kopf der Autorin und kehren zurück auf die Bühne, um dort weiter zu agieren.

Von Zeit zu Zeit rotten sich die handelnden Personen zu einer Gruppe zusammen, setzen Sonnenbrillen auf und skandieren wie der antike griechische Chor private und gesellschaftliche Positionen. Das geschieht immer dann, wenn das Gespräch zwischen den Figuren zu wort- und ratlosem Stillstand erstarrt ist, als ob sich die Personen in die trügerische Geborgenheit einer Gruppe retten wollten, um sich noch als Teil der Gesellschaft zu fühlen. Die Gruppe schafft dann die Einigkeit, die vorher im familiären Gegeneinander nicht herstellbar ist, und richtet ihre chorischen Feststellungen an das Publikum – fiktiv oder echt -, denn erst ein gemeinsames Gegenüber – oder soll man sagen „ein gemeinsamer Feind“? – stiftet Identität und Gemeinschaftssinn.

Die sich im Kreise drehenden Satzfetzen der Protagonisten – von Gesprächen möchte man kann gar nicht reden – werden abrupt von einem Schrei Karls aus der Küche unterbrochen. Der tote Klaus (Simon Köslich) ist wieder aufgetaucht und erscheint jetzt im weißen Anzug – Assoziation eines Leichenhemdes – und mit starrer Miene im Kreise der Familie auf. Erstaunen, frohes Entsetzen, Ungläubigkeit: die ganze Palette der Gefühlsregungen spielt sich in den Gesichtern der anderen ab, doch schnell finden sie angesichts der Situation zur Normalität zurück und fallen in sprachliche Standardmuster, mit denen sie in steter Wiederholung ihre Überraschung ausdrücken. Doch echte Betroffenheit und Freude sehen anders aus. In erster Linie sind alle Betroffenen mit der ungewohnten Situation überfordert, wirft sie doch ein zweites Mal alle Gewohnheiten über den Haufen. Britta und Frieder müsste jetzt zurück aus ihren Erinnerungen in die Gegenwart,  Anne müsste sich ein zweites Mal entscheiden, Malte droht das Aus der Beziehung mit Anne, und Karl gerät noch weiter an den Rand des Geschehens. Regisseur Herrmann Schein lässt auch durch die Art des Auftritts von Karl keinen Zweifel an der Interpretation der Wiederkehr von Klaus. Dessen starrer Blick und die mehr als verhaltenen Reaktionen zeigen deutlich, dass er den anderen nur ale Toter erscheint. Die Gespräche über ihn haben ihn bei allen wieder „zum Leben erweckt“, und jeder muss sich mit ihm auseinandersetzen. Jetzt kommen endlich einige Lebenslügen an die Oberfläche: Anne merkt, dass sie immer noch Klaus liebt und nicht Malte und wirft diesem seine berufliche Unfähigkeit an den Kopf. Frieder muss sich plötzlich der Frage stellen, wo denn er vor zwei Jahren war, als er seinen Sohn suchte und dieser von einem unbekannten Autofahrer auf der Autobahn überfahren wurde….

Doch es kommt Bettina Erasmy offensichtlich nicht auf eine Abrechnung mit realitätsnahen Personen an. Es bleibt offen, ob nun Frieder seinen eigenen Sohn überfahren hat; das ist eine der Möglichkeiten, die der Autorin zur Verfügung stehen, um die Brüchigkeit der menschlichen Beziehungen zu zeigen. Auch die Ermordung Maltes durch seinen Vorgänger Klaus – dieser macht mit dem Zeigefinger drei Mal „Peng“ – ist eher symbolisch zu verstehen als Hinweis, dass die Erinnerung an einen tragisch Verstorbenen jede Beziehung belastet und sie zum „Absterben“ bringen kann.

So lässt sich denn auch nachvollziehen, wenn plötzlich das Licht weitgehend verlöscht und danach alle – einschließlich des lebenden Malte und ausschließlich des nun verschwundenen Klaus – nach einem wie auch immer strapaziösen Fest zu sich kommen, die Hinterlassenschaften der Feier wegräumen und ihrer Wege gehen, als sei nichts geschehen. Die Autorin steht am Bühnenrande, zieht an der Zigarette und schaut ihren Personen ein wenig ratlos nach.

Für die Darsteller ist es nicht einfach, in diese handlungsarme Gesprächskonstellation Struktur und Spannung zu bringen. Zwar hilft der Einfall mit dem sporadischen chorischen Auftreten ein wenig, aber ansonsten zerfällt die Handlung in eine Menge von atomaren Sätzen und Aktionen, die nicht unbedingt einem zielorientierten Handlungsgerüst folgen sondern die Kommunikationsunfähigkeit und Sprachlosigkeit wiedergeben sollen. Anne Hoffmann verleiht der Autorin eine leicht aufgesetzte und herausgekehrte Intellelektualität, wie sie in der Branche durchaus verbreitet sein mag, von der sich die „echte“ Autorin aber glücklicherweise deutlich unterschied. Karin Klein gibt eine Britta, die in ihrer verspannten Frustration über die nicht erreichten Lebensziele zutiefst unglücklich ist aber mehr an sich als an dem Tod des Sohnes leidet. Andreas Manz setzt seinen Frieder mit betonter Bodenständigkeit und gespielter Lebensfreude von dieser lebensfeindlichen Frau ab. Zusammen geben die beiden ein Paar ab, wie man es wohl recht oft in der Realität trifft – auch ohne verstorbenen Sohn. Andreas Vögler kocht als Malte permanent vor Unzufriedenheit über den Gang vornehmlich seines Lebens. Hier kommt ein Mensch nicht mit seiner eigenen Unzulänglichkeit ins Reine. Ähnlich legt Stefan Schuster den Karl an, der seine Ungeduld und seine Frustrationen – worin immer die begründet sein mögen – in aggressiven Sarkasmus und Zynismus ummünzt und damit besonders bei Malte einen Nerv trifft. Katharina Uhland schließlich spielt eine unschlüssige Frau, die gerne ein wenig schmollt und um Aufmerksamkeit buhlt, aber sonst mit dem Leben nicht viel anzufangen weiß. Simon Köslich hat zwar mit dem Klaus eine dramaturgisch tragende Rolle, die für einen Umbruch sorgt, aber darstellerisch nicht viel zu leisten. Er hat vor allem als Menetekel präsent zu sein.

Das Publikum schien am Ende ein wenig ratlos, applaudierte dann aber doch mehr als freundlich. Dieses Stück muss sich in den Köpfen erst setzen.

Weitere Aufführungen am 21. und 27. April sowie am 25. Mai.

Frank Raudszus
 

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