Jazz-Requiem für die Ausgegrenzten
Die „Jazz Big Band“ des Hessischen Rundfunks präsentiert im Staatstheater Darmstadt ein „Melodram in Jazz“
Wenn man die Ankündigung des Auftritts einer Jazz Big Band liest, geht man zumindest unterschwellig davon aus, an einem solchen Abend fetzige Klänge und bekannte Ohrwürmern der Jazz-Literatur zu hören. Auch der Titel „Jazz Melodram“ und die Ankündigung eines Sprechers änderten an dieser Erwartungshaltung nicht viel. So war das Kleine Haus des Staatstheaters an diesem Sonntag Abend von Jazz-Liebhabern auch gut besucht.
Doch das Ensemble auf der Bühne erfüllte diese Erwartungshaltung nicht, sondern bot ein sowohl textlich als auch musikalisch ausgesprochen anspruchsvolles Programm, das auf jegliche „Aha-Effekte“ verzichtete und in äußerst konzentrierter Form modernen Jazz präsentierte. Der neue Leiter der HR Big Band, , und der bekannte Schauspieler August Zirner hatten das Programm gemeinsam erarbeitet. Dazu muss man anmerken, dass Zirner und McNeely sich schon lange Zeit kennen, da JohnMcNeely als junger Mann dem halbwüchsigen Zirner in den USA Musikunterricht erteilte. Erst in Frankfurt trafen sie sich nach vier Jahrzehnten wieder und frischten die alte Bekanntschaft zu einer neuen, fruchtbaren Zusammenarbeit auf.
Dem ersten Teil des Abends hat Zirner das Buch „Invisible Man“ des farbigen US-Amerikaners Ralph Ellison aus dem Jahr 1952 zugrunde gelegt. In diesem Buch schildert der Autor das Lebensgefühl der Farbigen in den USA, die sich als „Unsichtbare“ fühlten – und wohl heute oft auch noch fühlen. Zirner las an diesem Abend Auszüge aus diesem Buch, vornehmlich aus öffentlichen Reden schwarzer Aktivisten und Bürgerrechtler, die für die Gleichberechtigung der Farbigen eintraten. Dazu hat passende Musik komponiert, die auf die jeweilige Befindlichkeit des Autors oder seiner Protagonisten eingeht und sie in entsprechende Klangbilder umsetzt. Dabei übernimmt die Band oftmals die Rolle des Publikums und antwortet dem Redner entweder mit zustimmenden Aufschreien oder mit Ausdrücken der Empörung. Man hört in diesen Frage-Antwort-Spielen förmlich die aufwallenden Emotionen einer unterdrückten Menge, die sich mit mehr oder minder artikulierten Äußerungen Luft verschafft. Streckenweise erinnert diese Choreografie an eine moderne Oper, nur dass hier die speziellen musikalischen Muster des Jazz vorherrschen. Mit diesen Kompositionen bzw. Arrangements zeigt , dass man die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen ebenso mit den Mitteln des Jazz wiedergeben kann wie mit sogenannter „E-Musik“. Es ist sowieso erstaunlich, warum die moderne Musik und der Jazz immer noch getrennte Wege gehen. Die harmonischen und rhythmischen Muster nähern sich immer mehr an, und die Differenz liegt wohl eher in der Mentalität der jeweiligen Vertreter. Die E-Musik hält immer noch – zumindest unbewusst – Distanz zu einer Musikform, die sie in erster Linie mit Chaos – sprich Improvisation – und absichtslosem Spaß gleichsetzt, und die Jazz-Vertreter hegen ihrerseits Vorbehalte gegen die vermeintlich elitäre und arrogante Welt der „E-Musik“.
Wie dem auch sei: an diesem Abend verschwammen die Grenzen zwischen den Gattungen, und so manche Passage des Orchesters hätte auch in einem klassischen Konzertabend erklingen können. August Zirner lieferte dazu eine literarische Interpretation, die bewusst an das Schauspiel angelehnt war. Die Texte transportierten eindeutige Botschaften, und Zirner präsentierte sie mit der gesamten Bandbreite interpretatorischer Mittel, von der tremolierenden Trauer über die bittere Ironie bis hin zur offenen Empörung. fing die jeweilige Stimmung des Textes mit seiner Big Band musikalisch ein und formulierte sie mit den eigenen Mitteln neu. Dazu nutzte er nicht nur den Klangkörper des ganzen Orchesters sondern präsentierte auch immer wieder einzelne Instrumente – Saxophon, Trompete, Posaune – in geschickt choreografierten Soloauftritten.
Nach der Pause thematisierte das Programm den Jazz selbst. August Zirner las aus autobiografischen Texten von Miles Davis und Charly Mingus, die beide zu den größten Jazz-Musikern des 20. Jahrhunderts gehörten. Dazu ertönten bekannte Nummern dieser beiden Musiker, die verschiedene Mitglieder der Big Band in Soloauftritten präsentierten. Jetzt nahm das Konzert auch ein wenig Fahrt auf in Richtung „Wiedererkennung“. So mancher Fan von Miles Davis oder von Charly Mingus dürfte die Stücke im Stillen mitgesummt oder in Gedanken auf dem eigenen Instrument mitgespielt haben. Der Big Band gelang es auf beeindruckende Weise, die Zeit dieser großen Jazz-Musiker wieder lebendig werden zu lassen und ihre Stücke in authentischer Form wiederzugeben. Die Texte hierzu passten insofern zu denen der ersten Hälfte, als auch sie sich immer wieder über die Vorurteile der weißen Bevölkerung gegenüber den Farbigen, ob Musiker oder nicht, empörten. So musste sich Miles Davis an der berühmten Juillard-School von einer Professorin sagen lassen, dass die Schwarzen Blues spielten, weil sie unter härtesten Bedingungen Baumwollen ernten müssten und deshalb traurig seien. Davis protestierte lauthals und verwies auf seinen Vater, der als farbiger Zahnarzt nichts mit der Baumwollernte zu tun habe. Versteht sich, dass dieser Protest ihm zu dieser Zeit wenig Sympathie einbrachte. Konsequent verließ er die Schule und widmete sich nur noch der Jazz-Musik, zum Glück für diese Musikgattung und ihre Liebhaber.
Auch wenn das Publikum anfangs wegen der anspruchsvollen und gar nicht so eingängigen Musik vielleicht ein wenig irritiert war, erkannte es jedoch zunehmend die Qualität und die Aussage dieses Abends und nahm den rezeptorischen Faden zunehmend auf. Vor allem im zweiten Teil erklangen dann auch ein paar Melodien, die in die große Zeit des Jazz in der Mitte des 20. Jahrhunderts zurückführten und den Jazz-Liebhabern einen gewissen Wiedererkennungseffekt gönnten.
Der Abschlussapplaus war denn auch mehr als herzlich und galt der Musik und den Texten sowie ihren jeweilgen Interpreten in gleichem Maße.
Frank Raudszus
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