Das 9. Kammerkonzert des Staatstheaters Darmstadt bringt alte und neue Vokalmusik

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Das Ensemble
Vokalmusik der Kontraste

Das 9. Kammerkonzert des Staatstheaters Darmstadt bringt alte und neue Vokalmusik
In der Vokalmusik des 16. und 17. Jahrhunderts spielten die Madrigale eine große Rolle. Sie waren meist Vertonungen bekannter Gedichte und ausschließlich für mehrstimmige Vokalensembles gedacht. Instrumente waren verpönt, und der Inhalt bezog sich meist auf die klassischen Themen Liebe und Tod. Die polyphone Struktur wurde noch durch unterschiedliche Stimmlagen – vom Bass bis zum Sopran – verstärkt und verlieh dem Madrigal einen besonders artifiziellen Charakter. Dazu trugen einerseits die ernsten Themen und andererseits die hohe Konzentration für das Halten des Tones in einem reinen Vokalensemble bei.

Berühmte Meister des Madrigals waren Claudio Monteverdi (1567-1643) und Carlo Gesualdo (1366-1613). Die Werke dieser beiden Komponisten bildeten auch den Kern des 9. Kammerkonzerts, in dem das Ensemble „Neue Vocalsolisten Stuttgart“ die Kunst des reinen Vokalgesangs präsentierte. Zu diesem Ensemble gehören Susanne Leitz-Lorey (Sopran), Truike van der Poel (Mezzosopran), Daniel Gloger (Countertenor), Martin Nagy (Tenor), Guillermo Azorena (Bariton) und Andreas Fischer (Bass).

Eine besondere Kunst dieser Ensembles ist der Beginn eines Gesangsstücks, da hier kein Instrument die Tonhöhe vorgibt. Daher verfügen alle Sänger über kleine Stimmgabeln, mit denen sie sich kurz vorher synchronisieren. Dennoch ist der erste Ton wohl die größte Schwierigkeit. Wenn der Stimmführer erst einmal diesen Ton angestimmt hat, können sich die anderen darauf einstellen. Entsprechend konzentriert waren auch alle Sänger bei jedem Liedbeginn.

Das Programm begann mit drei Madrigalen von Claudio Monteverdi aus dem II., III. und IV. Madrigalbuch. Diese Madrigale sind sängerisch alles andere als leicht, enthalten sie doch oft eng beieinander liegende Tonfolgen, die zu Reibungen und Schwebungen führen und von den Sängern höchste Konzentration erfordern. Besonders reizvoll liegen hier die Sekundparallelen zwischen Mezzosopran und Countertenor, die auch noch unmittelbar nebeneinander standen. Die Madrigale vermitteln eine weltentrückte Stimmung. Die fast schwermütig besungene Liebe scheint meist ihre eigene Vergeblichkeit vorwegzunehmen, was angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Renaissance und im Frühbarock nicht weiter verwundert. Oftmals haben wohl Standesunterschiede oder arrangierte Heiraten Liebesbeziehungen verhindert. So schwingt in diesen Liebesliedern immer eine schwermütige Resignation mit. Berücksichtigt man noch die hohe Sterblichkeit aller Altersklassen, so liegt auf der Hand, dass Liebe und Tod oftmals tatsächlich dicht nebeneinander lagen und letzterer sowieso in vielen Häusern oft zu Gast war.

Nach Monteverdis kunstvoll – ohne Sopranstimme – interpretierten Madrigalen wagte das Ensemble einen Sprung ins 20. Jahrhundert und trug die „Klage“ von Karin Haußmann vor, einer zeitgenössischen Komponistin, die in diesem sechsstimmigen Stück den Ausdrucksumfang der menschlichen Stimme erweitert, indem sie auch die Atemgeräusche bewusst mit in die Intonation einbezieht. Da erklingen dann in größeren Abständen einzelne Laute, die bisweilen zwischen Sprache und Gesang changieren, die Sänger hauchen die Töne an und lassen sie auch buchstäblich verhauchen. Die unterliegenden Texte spielen semantische keine Rolle mehr und wollen keine geschlossene Botschaft mehr verkünden. Es sind nur noch Lautmalereien, die zwar insgesamt einen dreizeiligen Text ergeben, doch ist dieser dem Gesang nicht mehr zu entnehmen.

Danach ging es zurück ins 16. Jahrhundert zu drei Madrigalen von Carlo Gesualdo, die denen seines Zeitgenossen Monteverdi stark ähneln. Auch hier wieder die Betonung der Melancholie und einer allgemeinen Weltklage. In allen drei Madrigalen geht es um unglückliche Liebe, die nur durch den herbeigewünschten Tod beendet werden kann. Man kann sich vorstellen, wie ein solcher Gesang damals in stillen Räumen – es gab keine sonstigen Medien – auf eine Gesellschaft gewirkt haben mag, die sich noch an das Wüten der Pest erinnern konnte und das der Inquisition des Öfteren erlebte.

Den Schluss des ersten Teils bildete wieder die Moderne mit der Vokalkomposition „L´Alibi della parola“ des zeitgenössischen Komponisten Salvatore Sciarrino. Er vertont dabei zwei astrophysikalische Begriffe: Pulsar und Quasar, die als Lautmalereien von vier Männerstimmen daherkommen. Die anderen beiden „Sätze“ dieses Werkes handeln von der fernen Zukunft („Futuro remoto“) und den bemalten Vasen der Antike („Vasi parlanti“). Sciarrino versucht, mit dem reinen Gesang den astralen sowie den menschlichen Kosmos mit Vergangenheit und Zukunft abzubilden. Auch hier kann man im engeren Sinn nicht mehr von Gesang reden. Im Grunde genommen geht es hier darum, die Grenzen der menschlichen Stimme auszuloten.

So wie der erste Teil endete, begann der zweite. John Cage ist wohl einer der bekanntesten Musiker des 20. Jahrhunderts. Da er in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden wäre, lag es nahe, ihm Reverenz zu erweisen. Das Ensemble trug von ihm erst „Five“ vor, eine Komposition für fünf Stimmen, bei der die Sänger im Zuschauerraum verteilt waren und in nur lose vorgegebenen Zeitintervallen bestimmte Töne zu bilden hatten. Dazu „dirigierte“ die Sopranistin Susanne Leitz-Lorey auf der Bühne  mit einem elektronischen Gerät und bedeutsamer Mimik. Direkt im Anschluss an diese kurze Ensembleleistung trug sie die „Aria“ von Cage vor, einem Sprechstück mit bedeutungslosen Wortschöpfungen, denen sie erst durch Stimmlage und- ausdruck sowie entsprechender Mimik eine Augenblicksbedeutung verlieh. Dabei konnte ihr Ausdruck – stimmlich und mimisch – binnen weniger Augenblicke vom Operngesang zum Gassenhauer, Krächzer oder Ausruf des Erstaunens wechseln. Obwohl die Choreographie der Ton- und Klangfolgen zufällig wirkte, war offensichtlich alles minutiös einstudiert und vermittelte daher auch einen dramatischen, teilweise auch witzigen Eindruck. Für diese herausragende Einzelleistung erhielt die Solistin berechtigten Sonderapplaus.

Zwei Gruppen von Madrigalen beendeten diesen Abend, unterbrochen von einem letzten zeitgenössichen Beitrag. Michelangelo Rossis (1601-1656) Madrigale führten noch einmal zurück in die Melancholie der Madrigalzeit, während Manuel Hidalgos „Cuattro Citas de Juan Goytisola“ aus dem Jahr 1999 vier Texte des spanischen Dichters in Lautmalereien umsetzten. Hier entführte das Ensemble die Zuhörer ein letztes Mal in ungewohnte Gefilde der Vokalmusik und forderte von ihnen noch einmal Offenheit für moderne Klang- und Stimmbildungen. Der Kreis zum Beginn des Abends schloss sich mit fünf todessehnsüchtigen Madrigalen von Carlo Gesualdo, die sich alle um unglückliche Liebe drehten. Auch ohne den italienisch gesungenen Text zu verstehen, nahm man die schwermütige und jenseitsflüchtige Stimmung dieser Musik deutlich wahr und erhielt zum Abschluss noch einmal einen verdichteten Eindruck dieser eigenartigen Kunstform.

Die besondere Art dieser Musik verhinderte begeisterten Beifall, doch die Zuhörer wussten die Leistung des Ensembles wohl zu schätzen und drückten dies durch die Länge des Beifalls aus.

Frank Raudszus

 

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