Premiere von Georg Nußbaumeders Epos über eine Familientragödie im Schauspiel des Staatstheaters Darmstadt

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Christina Kühnreich (Gerlinde Hufnagel), Tom Wild (Georg Schatzschneider)
Bayerische Buddenbrooks der Nachkriegszeit
 
Premiere von Georg Nußbaumeders Epos über eine Familientragödie im Schauspiel des Staatstheaters Darmstadt
Wenn vom Aufstieg und Fall einer Familie die Rede ist, denkt man unwillkürlich an Thomas Manns „Buddenbrooks“. In einem Roman kann man lange Zeiträume mit den Mitteln der Epik effektvoll und mit Spannung füllen, im Theater ist das nicht ganz so einfach. Die Bühnenversion von Thomas Manns Roman funktionierte deswegen recht gut, weil sich die Ereignisse logisch auseinander entwickeln und weil – vor allem – nur etwas mehr als eine Generation, nämlich gut 40 Jahre, überspannt werden. Damit kann man die wesentlichen Rollen zu Beginn einführen und mit denselben Schauspielern bis zum Schluss besetzen, Das erleichtert dem Publikum das Verständnis der Handlung und der Personen.

Heinz Kloss (Josef Jufnagel, Gabriele Drechsel (Erna Schatzschneider)In Georg Nußbaumeders neuen Stück „Eisenstein“ geht es ebenfalls um eine Familie und ihren unaufhaltsamen wenn nicht wirtschaftlichen dann jedoch familären Zusammenbruch. Doch hier erstreckt sich die Handlung über 63 Jahre, nämlilch von 1945 bis 2008. Man könnte auch diese lange Zeit mit zwei Generationen abdecken, dann müssten diese jedoch entweder zu Beginn als Kinder oder am Ende als alte Leute auftreten. Nußbaumeder hält es da eher mit dem Realismus und teilt sein Personal in drei Generationen auf. Will man jedoch eine so lange Spanne in einem verständlichen Handlungsgefüge abbilden, muss man entweder Überlänge und die damit verbundene Zumutung an das Publikum in Kauf nehmen oder die Zeit in diskontinuierlichen Sprüngen durchmessen. Nußbaumeder hat sich für Letzteres entschieden. Um angesichts dieser Zeitsprünge Konsistenz und Verständlichkeit zu erhalten, ist ein Erzähler zwischen den einzelnen Zeitabschnitten erforderlich. Personen, die in der vorangegangenen Episode nicht vorhanden oder noch Kleinkinder waren, müssen neu eingeführt werden. Das Hilfsmittel der erklärenden Texte verstärkt noch den sowieso schon ausgeprägten epischen Charakter einer solchen Familienchronik und geht auf Kosten der Spannung. Jede einzelne Episode ist im Grunde genommen ein eigenes kleines Theaterstück mit Anfang und Ende, und die jeweilige Exposition der Szene führt auf die Dauer zwangsläufig zu Längen.

Nußbaumeders Stück beginnt im Jahr 1945, als das junge Flüchtlingsmädchen Erna an einen Gutshof im bayerischen Eisenstein kommt, wo ihr einziger überlebender Verwandter als Knecht arbeitet. Auf der Flucht ist sie von einem entflohenen KZ-Häftling geschwängert worden, doch aus Angst, als unverheiratete Schwangere vom Hof verjagt zu werden, schiebt sie das Kind dem Gutsherrn unter, der bei ihr vor seiner kranken und unleidlichen Frau Trost gesucht hat. Diese Einführungsszene ist die stärkste im ganzen Stück, da sie die unmittelbare Nachkriegszeit mit Not, Enge, Nazi-Entsorgung und Entnazifizierung sowie Angst vor der Zukunft – aber auch Zusammenhalt und Durchhaltewillen überzeugend und ohne falsche Schnörkel wiedergibt. Doch dramaturgisch dient sie nur als Grundlage für die Ereignisse der folgenden Jahrzehnte. Das Thema der folgenlosen Wendung vom SS-Mann zum mehr oder minder respektablen Bürger wird nur angerissen und nicht problematisiert, ebenso wie das der befreiten KZ-Häftlinge, die hier sogar eine eher zweifelhafte Rolle spielen.

Christina Kühnreich (Gerlinde Hufnagel), Tom Wild (Georg Schatzschneider)Die nächste Szene spielt Mitte der sechziger Jahre. Ernas Sohn Georg ist erwachsen und widmet sich der schweren Arbeit im Sägewerk, da er stets das Gefühl hat, als unehelicher Sohn einer Flüchtlingsfrau – von der angeblichen Vaterschaft des Gutsherrn weiß er nichts – abschätzig betrachtet zu werden. Doch der Gutsherr achtet ihn – nur als vermeintlichen Sohn? – höher als er denkt und will ihn zum Nachfolger aufbauen. Soweit, so gut. Doch nun naht ein Hauch von Courths-Mahler: die bis dahin nicht eingeführte Tochter Gerlinde des Gutsherrn tritt auf den Plan, und die beiden verlieben sich ineinander. Als der Vater von den Heiratsplänen hört, verhindert er dies, indem er seine Tochter über seine vermeintliche Vaterschaft aufklärt. Für Gerlindes Schwangerschaft weiß er nur eine Lösung: Abtreibung.  Gerlinde bricht schwer geschockt mit dem immer noch geliebten Georg, ohne ihm den wahren Grund zu erklären, stößt ihn damit vor den Kopf und bestätigt seine gesellschaftlichen Minderwertigkeitskomplexe. Die natürliche Reaktion, sich mit Georg oder ohne ihn bei dessen Mutter der Vaterschaftsverhältnisse zu vergewissern, fällt den dramaturgischen Anforderungen als einer stückexternen „Meta-Überlegung“ zum Opfer. Andernfalls käme die Notlüge heraus, die beiden könnten heiraten, und das Stück wäre zu Ende.

So jedoch verbittert Gerlinde allein im fernen München, während sich Georg in die Arbeit stürzt, um zu vergessen. Erst einen weiteren Zeitsprung von fünf Jahren später gewinnt die Handlung wieder an Fahrt, als Gerlinde aus Einsamkeit einen ungeliebten Mann heiratet. Als bei der Hochzeit ihre jüngere Schwester und Georg zueinanderfinden, versetzt sie diese Liaison aus verständlichen Gründen in Alarmstimmung, bis sie von einem anderen Familienmitglied die beiläufige Bemerkung hört, die beiden seien ja schließlich nicht verwandt. Erna muss angesichts der zweiten „innerfamiliären“ Liaison Farbe bekennen und beichtet dem Gutsherrn ihre damalige Notlüge, woraufhin dieser überstürzt zu seiner unglücklichen Tochter fahren will und dabei tödlich verunglückt. Gerlinde erhält die endgültige Bestätigung ihrer dunklen Ahnungen in einer persönlichen Auseinandersetzung mit Erna, doch Georg ist nicht mehr bereit, zu ihr  zurückzukehren, da er immer noch unter ihrem damaligen „Verrat“ leidet und sich plötzlich als Spielball der Frauen fühlt. Gerlindes Vernunftehe ist nun die Grundlage entzogen, doch auch Georg fühlt sich in seiner Ehe mit Gerlindes Schwester nicht mehr glücklich, da er immer noch an Gerlinde hängt. Die Handlung schleppt sich jetzt wie die beiden Ehen dahin. Gerlindes endet kurz und für den Mann schmerzhaft, Georgs geht trotz zweier Kinder langsam und stetig zugrunde, da Georg sich aus Kummer um die verlorene Gerlinde noch tiefer in die Arbeit vergräbt und kein Interesse an seiner Frau mehr hat. Ihren Flirt mit Georgs Anlageberater nimmt er gelassen hin, zieht aus dem gemeinsamen Haus und wünscht beiden viel Glück.

Matthias Kleinert (Vinzenz Hufnagel), Gabriele Drechsel (Erna Schatzschneider)In dieser Phase, die etwa Mitte der siebziger Jahre spielt, dreht sich die gesamte Handlung nur um die emotionalen und erotischen Befindlichkeiten der Protagonisten. Historische oder politische Ereignisse dieser Jahre wie der Vietnamkrieg oder der Terrorismus kommen entweder nur in beiläufigen Bemerkungen oder gar nicht vor. Die eine Notlüge vor nunmehr dreißig Jahre wirkt sich jetzt in unauflöslichen Widersprüchen und Verdächtigungen aus, die sich letztlich im Kreise drehen und damit den Fortgang des Stückes hemmen. Als „deus ex machina“ aus dieser Situation erfindet Nußbaumeder den tödlichen Verkehrsunfall von Georgs noch jugendlichem Sohn, der jedoch in seiner Zufälligkeit nichts mit dem Tod des genetisch schwächelnden Hanno Buddenbrook gemeinsam hat. Dieser plötzliche Tod führt dann zum Treffen von Georg und Gerlinde und einem zweiten Frühling für die beiden. Doch auch die nächste Katastrophe entwickelt Nußbaumeder nicht zwangsläufig aus der Situation heraus sondern „a posteriori“ aus den Ereignissen. Als Georg erfährt, dass Gerlinde unfreiwillig in den Tod seines Sohnes verwickelt war, ist dies für ihn ein Grund für einen endgültigen Bruch mit ihr und die Verdoppelung seines Einsatzes für sein mittlerweile zu einem Konzern herangewachsenes Firmenkonglomerat.

Jetzt könnte die Familie in gegenseitiger Feindschaft und Isolierung erstarren, doch Nußbaumeder erfindet noch einen Dreh, den manche Zuschauer vielleicht bereits erahnt haben. Gerlinde hatte damals nicht abgetrieben sondern das gemeinsame Kind zur Adoption freigegeben. Nun nimmt der erwachsene Albert Kontakt mit seinen leiblichen Eltern auf. Da er jedoch mit all den Verwicklungen nichts zu tun hat, erscheint er wie ein weiterer „deus ex machina“, doch als einer ohne Funktion außer der, dass er kurzfristig seine Eltern zumindet zu einem Gespräch wieder zusammenbringt. Das dokumentiert aber nur noch die innere Entfernung des ehemaligen Liebespaares. Gerlinde trauert ihren vergebenen Lebenschancen hinterher und muss akzeptieren, dass Albert nicht mehr als freundschaftliche Gefühle für sie hegt. Georg hat die gesamte familiäre Bindung durch seine nunmehr global agierende Firma ersetzt – wir befinden uns mittlerweile laut Erzähler in den neunziger Jahren – und lässt zumindest äußerlich bei der Eröffnung einer weiteren Vaterschaft keine emotionalen Regungen erkennen. Gemeinsam tragen noch einmal alle Überlebenden die früh verstorbene Gerlinde zu Grabe. Sie dürfte sich zu Tode gegrämt haben. Am Ende stehen die beiden Halbgeschwister aus Georgs Liebschaft mit Gerlinde und der Ehe mit ihrer Schwester an Georgs Grab, der sich dank übermäßiger Arbeit per Herzinfarkt selbst dorthin befördert hat. Doch selbst diese beiden Halbgeschwister kommen sich nicht mehr näher und können über dem kalten Grab im Schneegestöber nur Allgemeinplätze austauschen. Dieses ist die allererste Szene des Stücks, die kreisförmig auf das Ende verweist.

Christina Kühnreich (Gerlinde Hufnagel), Gabriele Drechsel (Erna Schatzschneider), Tom Wild (Georg Schatzschneider)Es wird nicht ganz klar, was Nußbaumeder mit seinem Stück ausdrücken will. Seine Personenschilderungen sind zwar handfest, glaubwürdig und offensichtlich dem realen Leben entlehnt. Insofern zeichnet sich das Stück durch Lebensnähe aus. Doch darüber hinaus fehlt eine zielgerichtete Aussage. Die Tatsache, dass all die Missverständnisse und Zerwürfnisse auf einer einzigen Notlüge basieren, bietet keinerlei exemplarische Grundlage. Sie bleibt purer Zufall, der in der Realität viel früher durch die Wahrheit entlarvt worden wäre. Damit klingt die Botschaft ein wenig nach dem Flügelschlag eines Schmetterlings in China, der ungeahnte Folgen auslösen kann. Der Charakter der Notlüge begrenzt alle kommenden Ereignisse darüber hinaus auf das rein Private. Politische Entwicklungen lassen sich damit nicht erklären, und so verzichtet Nußbaumeder konsequent auf jeglichen politischen Aspekt, wenn man den unaufhaltsamen Aufstieg des Geschäftsmanns Georg und seine teilweise harten Entscheidungen nicht als solche werten will. Auch die anderen Treiber der Handlung – unter anderem der Tod des Sohnes – bieten sich nicht für weitergehende Interpretationen an sondern sind rein dramaturgisch begründet.

Das Ensemble macht unter der Leitung von Martin Ratzinger das Beste aus diesem Stück und konzentriert sich ganz darauf, die einzelnen Personen in ihren inneren Konflikten zu zeigen. Gabriele Drechsel ist am besten als junges Mädchen Erna, das sich in der harten Welt der desillusionierten und verstümmelten Männer der Nachkriegszeit behaupten und auch noch ihr Kind durchbringen muss. Hier kann sie ihr schauspielerisches Können beweisen, während sie in den späteren Phasen zunehmend in die Rolle des wandelnden schlechten Gewissens gedrängt wird. Ein Höhepunkt ist für sie noch einmal die Auseinandersetzung mit Gerlinde um die Vaterschaftslüge, wenn alles so lang Verdrängte aus ihr hervorbricht. Christina Kühnreich spielt die Gerlinde mit einer beeindruckenden Ausdruckvielfalt vom verliebten über das verzweifelte Mädchen hin zur rebellierenden Frau, die ihr Glück noch einmal wenden will, und schließlich als still Resignierte, die irgendwann hinnimmt, dass ihr das Leben nicht wohlgesonnen war, und die sich schließlich ihres Sohnes und ihrer Nichte annimmt. Diana Wolf gibt eine arbeitssame und stets loyale Dienstmagd, die aber mutig ihre einzige Chance nutzt, sowie Georgs halbwüchsige Tochter mit Beziehungs- und Alkoholproblemen. Katharina Uhland ist ebenfalle in zwei völlig unterschiedlichen Rollen zu sehen: als kranke und grantelnde Frau des Gutsbesitzers und als dessen jüngere Tochter Heidi, die ihrer Schwester Gerlinde unwissend den Geliebten wegnimmt.

Tom Wild wächst immer mehr in tragende Rollen hinein. Sein Georg ist anfangs ein mürrisch-sperriger und dann verliebter junger Mann, der sich später, tief gedemütigt, aus Verzweiflung zum Zyniker entwickelt. Danach wird daraus ein knallharter Geschäftsmann, der scheinbar über all dem privaten „Kram“ steht, der ihm nur lästig ist. In Wahrheit schließt sich die alte Wunde nie und wird nur überspielt. Tom Wild schafft diese Wandlung über die Jahrzehnte so glaubwürdig, dass es keiner Schmink- und Haarkünste bedurft hätte, um in ihm den langsam alternden Misanthropen zu erkennen. Heinz Kloss ist als patriarchalisch bramarbasierender und herrisch hinkender Gutsbesitzer eine Idealbesetzung. Die Mischung aus jovialer aber herrschaftlicher Fürsorge und Standesdünkel kommt bei ihm überzeugend zum Ausdruck, außerdem verfügt er über eine in jeder Situation und Position deutlich vernehmbare und verständliche Sprache.

Matthias Kleinert muss sich gleich in drei Rollen bewähren: erst in der Rolle des desertierten und feige sich versteckenden SS-Mannes, dann in der des nur geduldeten und daher frustrierten Verlierers, der seine Wut über die verordnete Ehe mit der Flüchtlingsmagd Erna in Suff und Aggression auslebt. Später darf er dann mit krausem Haarschopf und langen Koteletten noch den jovialen Jecken aus dem bayerischen Autohaus spielen. Da brauchte der Zuschauer schon einige Minuten, um hinter der Verkleidung den Schauspieler zu erkennen.

Gerd K. Wölfle spielt den Knecht Asam als knorrigen Alten mit viel Lebenserfahrung, und Stefan Schuster hat die undankbare Aufgabe, die Rolle des spät und ohne große dramaturgische Funktion auftretenden Albert zu spielen. Aber auch diese muss erst einmal gespielt werden, und er macht das gut.

Michael Erhard untermalt und begleitet die Handlung vom Bühnenrand mit Musik vom Klavier und anderen Instrumenten. Dabei erklingen bekannte Schlager der jeweiligen Epoche, und zwischendurch intoniert er auch die Haustürklingel oder – wesentlich makabrer – das Knattern der Schüsse eines sowjetischen Erschießungskommandos in der frühen Nachkriegszeit.

Der lange erste Teil bis zur Pause mit seinen umvermeidlichen Längen hatte zwar das Premierenpublikum etwas ausgedünnt, aber dafür applaudierten die verbliebenen Zuschauer am Ende umso herzlicher und andauernder. Zumindest die Leistung des Ensembles wurde auf diese Weise zu Recht honoriert.

Frank Raudszus

Alle Fotos © Barbara Aumüller

 

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