Das Staatstheater Darmstadt inszeniert Arthur Millers „Der Tod eines Handlungsreisenden“

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Andres Manz (Willy Loman), Maika Troscheit (Linda)

Die bittere Entlarvung einer falschen Utopie

Das Staatstheater Darmstadt inszeniert Arthur Millers „Der Tod eines Handlungsreisenden“
Passend zur wirtschaftlichen Götterdämmerungsstimmung in der Eurozone haben die Darmstädter Theatermacher einen Klassiker des modernen Theaters über die gesellschaftlichen Mechanismen der westlichen Marktwirtschaft – um das „K“-Wort einmal bewusst auszusparen – auf den Spielplan gesetzt. Arthur Miller hat in seinem bereits 1949 veröffentlichten Theaterstück „Der Tod eines Handlungsreisenden“ den amerikanischen Traum vom Schmieden des eigenen Glücks hinterfragt und ihn als Lebenslüge entlarvt. Die Vision „vom Tellerwäscher zum Millionär“ dreht er einfach um, auch wenn es sich bei dem Protagonisten Willy Loman nicht um einen ehemaligen Millionär handelt. Doch um einen unaufhaltsamen beruflichen und privaten Niedergang handelt es sich dennoch in dieser Geschichte, und um die Aufdeckung einer großen Lebenslüge, die darin besteht, die Wirklichkeit konsequent solange zu verdrängen und zu verdrehen, bis sie zu den eigenen Träumen passt. Natürlich geht diese Strategie nur so lange auf, bis alle finanziellen und emotionalen Reserven aufgezehrt sind, und dann bleibt nur noch die Alternative eines selbstgewählten Endes.

Simon Köslich (Happy), Andreas Manz (Willy Loman), István Vincze (Biff)Willy Loman hat über dreißig Jahre als Handelsvertreter in derselben Firma hinter sich und möchte wegen der zunehmenden Erschöpfung vom Außendienst in den Innendienst wechseln. Dass er seit kurzem nur noch auf Provisionsbasis ohne festes Gehalt arbeitet, verdrängt er und schwelgt stattdessen in der Erinnerung an erfolgreiche Jahre, in denen er große Abschlüsse tätigte. Seiner Frau, die ihm zwar in unverbrüchlicher Treue zur Seite steht aber auf das Geld für diverse Ratenverträge drängt, verspricht er, bei seinem Chef energisch um einen Innenposten zu kämpfen. Die Realität dieses Gesprächs sieht dann ganz anders aus: den Juniorchef interessieren alte Leistungen und Loyalitäten wenig, und statt Lomans Bitte stattzugeben entlässt er den verzweifelt sich Aufregenden einfach.

Lomans über dreißigjährigen Söhne Happy und Biff haben es ebenfalls nicht weit gebracht. Happy arbeitet in einer untergeordneten Position, kompensiert seine Frustration mit Frauengeschichten und schwelgt ansonsten in Zukunftsträumen. Biff war und ist Lomans Lieblingssohn, weil er einst als begabter Footballspieler die Phantasie seines Vaters anregte. Der sah ihn stets als umjubelten Star, dem im Leben alle Türen offenstehen. Die Tatsache, dass Biff keine Ausbildung absolviert hat und sich seit Jahren mit Gelegenheitsarbeiten durchschlägt, ignoriert er oder deutet einfache Tätigkeiten in Managementaufgaben um. Für Willy Loman sind Beliebtheit und selbstbewusstes Auftreten die Schlüssel zum Erfolg, und so schreibt er Biff kurzerhand diese Attribute zu. Dieser sieht sich selbst jedoch zunehmend als gescheitert und versucht vergeblich, der Idealisierung durch seinen Vater zu entgehen. Einen bedeutenden Teil des Stücks nimmt der Versuch Lomans ein, Biff zu einem Besuch eines ehemaligen Arbeitgebers wegen eines Jobs zu überreden. Die Tatsache, dass Biff damals wegen eines Bagatelldiebstahls gefeuert wurde, marginalisiert Willy als Jugendsünde, die an Biffs großen Fähigkeiten und der vermeintlich hohen Meinung dieses Arbeitgebers von Biff nichts ändern können. Biff hat den eigenwilligen Realitätsdeutungen seines Vaters nie viel entgegengesetzt und sieht sich jetzt mit dessen geradezu absurden Fehleinschätung der Situation konfrontiert. Doch aus Liebe zu seinem Vater und unter dem Einfluss seines ebenfalls realitätsblinden Bruders widerspricht er nicht sondern geht tatsächlich zu dem besagten ehemaligen Arbeitgeber. Natürlich endet dieser Versuch als Desaster.

Andreas Manz (Willy Loman), István Vincze (Biff), Andreas Vögler (Ben)Ein Höhepunkt des Stücks ist das Treffen der Söhne mit dem Vater zu einem abendlichen „Männeressen“, bei dem Biff seinem Vater die nackte Wahrheit enthüllen will. Dieser jedoch erstickt jeden Anlauf seines Sohns mit begeisterten Kommentaren über den bereits antiziperten Erfolgsbericht. In geradezu manischer Art und Weise verhindert Willy Loman jegliche längere Erklärung seines Sohnes und bindet dabei noch den willigen Happy als Helfer ein. Erst als Biff seine Niederlage und die Wahrheit buchstäblich hinausschreit, schweigt Willy Loman und sinkt in sich zusammen. Als letzter Ausweg bleibt ihm der als Unfall kaschierte Selbstmord, der seiner Familie einen hohe Versicherungssumme einbringen soll. So kann er auch als Toter noch etwas bewirken.

Ein weiterer moralischer Anker in Willy Lomans Leben ist sein bereits verstorbener Bruder Ben, der einst in Afrika mit Diamanten sein Glück machte und reich wurde. Ihn bindet er in Tagträumen immer wieder in sein aktuelles Leben ein und lässt ihn Angebote über visionäre Großprojekte an Biff unterbreiten. Diese Vermischung von irrealer Phantasie und Wirklichkeit geht in der Inszenierung bewusst soweit, dass Ben wie eine tatsächlich lebende Person auftritt, die für Willy Lomans Familie lukrative berufliche Alternativen aufzeigt. Willy Loman lebt buchstäblich in einer Parallelwelt, in der die Lomans dank ihrer Fähigkeiten und Beliebtheit von Erfolg zu Erfolg eilen.

Bei seinen Tagträumen verdrängt Willy Loman auch den wahren Grund, warum Biff einst wichtige Abschlussprüfungen und jegliche weitere Ausbildung verweigerte: Biff erwischte als Schüler seinen Vater bei einer außerehelichen Affäre in einem Hotel und verkraftete  diesen väterlichen Vertrauensbruch nie. Doch Willy Loman erzählte seiner Frau davon nie, und auch zwischen Vater und Sohn wurde diese Situation nie wieder thematisiert.

Der Traum vom selbsterrungenen Erfolg geht bei Willy Loman mit falschem Stolz einher. Sein bester Freund Charley ahnt seine Misere und will ihm helfen. Doch Willy schägt sein Angebot einer festen Arbeitsstelle geradezu aggressiv ab. Lieber leiht er sich von Charley Geld, das er glaubt zurückzahlen zu können, als das von ihm so betrachtete Almosen eines Jobs anzunehmen. Die Anstellung bei einem Freund ist für Willy Loman die finale Kapitulation vor dem Markt und der Realität.

Tom Wild (Howard), Andres Manz (Willy Loman)Peter Haile hat darauf verzichtet, Arthur Millers Stück als frontale politische Anklage gegen den Kapitalismus oder gar die aktuelle Finanzkrise umzudeuten. Möglichkeiten dazu gibt es durchaus – so in der Person des Firmenchefs oder in der Entlassungsszene. Doch Haile konzentriert sich ganz auf die Seite des „Opfers“ des amerikanischen Traums: des einfachen Mannes, der stets vom großen Erfolg träumt und ihm doch nie nahe kommt. Der systematische Selbstbetrug, der allein die prekäre Situation zumindest temporär zu ertragen ermöglicht, steht auch in dieser Inszenierung im Mittelpunkt. Die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen ergibt sich implizit daraus. Bühnenbildner Dirk Becker hat dafür eine offene, geradezu schutzlos karge Umgebung entworfen. Ein nacktes, an allen Seiten offenes Gerüst deutet den Luftschlosscharakter von Willy Lomans Welt an. Außer einem Kühlschrank – Symbol des Fortschritts in den fünfziger Jahren – und einem Stapel Autoreifen deutet kein Requisit so etwas wie bürgerlichen Erfolg an. Einige Stühle markieren das jeweilige Interieur, im Hintergrund deutet ein verrottender Baumstamm sowohl Abenteuerspiele aus der Familienfrühzeit als auch die Zerrüttung der sozialen Verhältnisse an. Ein farbintensves Bild einer Wolkenlandschaft im Hintergrund zeigt durch unterschiedliche Beleuchtung die jeweilige Tageszeit an.

In dieser Umgebung lässt Peter Haile die Akteure verschiedener Zeitebenen nahezu übergangslos auftreten. Wie in einem Vexierspiel tauchen Personen aus verschiedenen Abschnitten in Willy Lomans Leben auf und scheinen sogar über die Zeitgrenzen hinweg miteinander zu kommunizieren. Seine Söhne treten mal als Erwachsene und dann wieder als Kinder – andere Darsteller – auf, wobei sich die Szenen eng überlappen. Willys Bruder Ben erscheint mitten in den Szenen wie eine lebende Figur und mischt sich in die jeweilige Handlung ein. Durch diese enge Verzahnung der Zeitebenen vermittelt Haile eine beklemmende Sicht in die Gedankenwelt Willy Lomans, der in einer vermeintlich schönen Vergangenheit, einer schwierigen Gegenwart und einer herbeigehofften goldenen Zukunft gleichzeitig lebt. Doch die Protagonisten der jeweiligen Szenen sprechen eine andere Sprache.

Die Rolle des Willy Loman spielt Andreas Manz, der zuletzt in Thomas Bernhards „Theatermacher“ brillierte, Er verleiht dieser Figur den Charakter eines Getriebenen, der unterschwellig ahnt, dass die Welt nicht so ist, wie er sie verinnerlicht hat und gerne hätte, doch dieser Tatsache nicht ins Auge sehen will sondern alles ausblendet, was darauf verweist. Geradezu großartig vermittelt er diesen Eindruck in der Szene mit Biff und Happy, wenn ihm ersterer die Wahrheit mitteilen will. Hektisch-euphorisch schneidet er Biff jedes Mal das Wort ab, wenn dieser zur Sache kommen will, und steigert sich dabei systematisch in eine kurzatmige Hysterie hinein, die am Ende geradezu zwangsläufig im Kollaps endet. In anderen Szenen zeigt er die Verlorenheit und Sprachlosigkeit dieser Figur, wenn Willy Loman einmal alleine mit sich ist und niemanden als Kronzeugen für den „amerikanischen Traum“ festnageln kann. Andreas Manz gelingt es, die erkrankte Psyche eines Verlierers darzustellen, der auf die Siegerpose nicht verzichten will.

Neben ihm spielt Maika Troscheit die typische Hausfrau der fünfziger Jahre, die nur um den Familienfrieden bemüht ist und ihren Mann auf jede erdenkliche Weise bei Laune halten will. Kritisches Mitdenken und Protest gegen Realitätsverdrängung gehören nicht zu ihren Handlungsmustern, aber sie kann auch eiskalt werden, wenn ihr zentrales Weltbild in Gefahr gerät. So jagt sie die Söhne aus dem Haus, als diese ihren Vater mit der nackten Realität konfrontieren. Maika Troscheit versucht auch nicht, diese Rolle überzuinterpretieren, sondern belässt sie in der von Arthur Miller intendierten Kontur der harmoniebedürftigen Hausfrau.
Simon Köslich und István Vincze geben die beiden Brüder Happy und Biff als gut eingespieltes Paar – sowohl in der Fiktion als auch in der Darstellung. Beide Rollen gewinnen dabei durchaus eigenständiges Profil, obwohl sie vom Autor beide als eher vergleichbare Verlierer ausgelegt sind. Simon Köslich ist der angepasst Verlierer, der sich in sein Schicksal gefügt hat, István Vincze der Rebell, der schließlich auch den Vater über die eigene Unzulänglickeit aufklärt und die Konsequenzen zieht. Andreas Vögler verleiht dem in Willys Tagträumen wieder zum Leben erweckten Ben einen Hauch von jenseitiger Distanz und Abgeklärtheit. In weiteren Rollen treten Diana Wolf als Geliebte des jüngeren Willy Loman, Harald Schneider als Willys Fraund Charley, Tom Wild als knallharter Firmenchef Howard und Stefan Schuster als Charleys Sohn Bernard auf.

Das Premierenpublikum zeigte sich von dieser dichten Inszenierung beeindruckt und spendete kräftigen Beifall, der vor allem Andreas Manz galt.

Frank Raudszus

Alle Fotos © Barbara Aumüller

 

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