Terry Eagleton:“Warum Marx recht hat“

Print Friendly, PDF & Email

1206_marx.jpg 

Der zweite Aufguss eines in die Kritik geraten Gesellschaftsmodells

Bereits in den späten siebziger und den achtziger Jahren zeigte das ideologische Selbstbild des Marxismus Risse. Spätestens nach dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ jedoch galt der Marxismus als überlebte und von der Geschichte widerlegte Ideologie. Die verbliebenen Beispiele Kuba und vor allem Nordkorea haben dieses aktuelle Bild eher gefestigt als in Frage gestellt.
Der britische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton – bekennender Marxist und Katholik(!) – hat sich in dem vorliegenden Buch die zehn Kernthesen gegen den Marxismus bzw. Sozialismus vorgenommen und versucht, sie Stück für Stück zu widerlegen. In Kurzform lauten diese zehn Thesen:
Der Marxismus ist erledigt
Der Marxismus ist nicht praktikabel
Der Marxismus hat ein deterministisches Weltbild
Der Marxismus ist die Utopie einer mühe- und arbeitsfreien Freizeitgesellschaft
Der Marxismus reduziert alles auf die Wirtschaft
Der Marxismus ist reiner Materialismus ohne geistige Werte
Der Marxismus ist auf (so nicht mehr existente) Klassen fixiert
Der Marxismus propagiert die gewaltsame Revolution
Der Marxismus glaubt an den allmächtigen Staat
Der Marxismus ist von a nderen Bewegungen abgelöst worden
Diese Aufzählung soll nicht als Basis für eine Diskussion von Eagletons Argumenten im Detail sondern als Übersicht über den Rahmen der Diskussion dienen. Eine auf jeden einzelnen Punkt eingehende Kritik von Eagletons Argumenten würde den Rahmen dieser Rezension sprengen.
Grundsätzlich fällt auf, dass Eagleton die Begriff „Kapitalismus“, „Sozialismus“ und „Marxismus“ als undefinierte Systemreferenzen verwendet. In einem Buch, das sich zentral mit der Kritik am Marxismus auseinandersetzt, hätte man kompakte Definitionen als Grundlage der Diskussion erwartet. Eagleton jedoch macht keinen Unterschied zwischen Kapitalismus und (sozialer) Marktwirtschaft, ja, er setzt sogar die westlichen Demokratien mit dem Kapitalismus gleich. Auf die ökonomische Bedeutung des Faktors „Kapital“ geht er gar nicht erst ein. Der Kapitalismus ist von vornherein als die Wurzel allen Übels gesetzt. Auch die militärische Aggression gehört zum Wesen des Kapitalismus, während sich der Sozialismus angeblich stets für den Frieden eingesetzt hat. Die ideologische Ausrichtung zeigt sich spätestens auf Seite 18, wenn Eagleton von der Unterdrückung der Arbeiterbewegung in den 70er und 80er Jahren des 20.(!) Jahrhunderts im Kapitalismus spricht. Bei der Verlagerung der Produktion in Schwellenländer blendet er konsequent die Chancen für diese aus und bezeichnet sie als Depravation der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Ländern. Den real existierenden Sozialismus im früheren Ostblock lobt er für seine Errungenschaften „billiger Wohnraum, Sozialleistungen, Gleichheit und Kinderbetreuung in der DDR“(S. 27). Von Mauerbau, Republikflucht und systematischer Mangelverwaltung redet er nicht.
Durchaus zutreffend weist Eagleton auf den Umstand hin, dass man den Sozialismus nicht in nationalen Grenzen sondern nur weltweit einführen kann, weil andernfalls die Leistungsträger verschwinden (was er nur implizit zugibt) und eine spezialisierte Verteilung der Arbeiten auf verschiedene Länder nicht mehr möglich ist. Damit fordert er für den Sozialismus gerade die Arbeitsteilung, die er dem Kapitalismus – auf Firmenebene – vorwirft. Laut Eagleton benötigt man Zugriff auf die Ressourcen der ganzen Erde, um den Sozialismus einführen zu können. Warum das so sein muss, erklärt er nicht. Wie sich heute zeigt, verfügte schon die Sowjetunion über riesige Ressourcen, konnte sie jedoch nicht nutzen. Explizit (S. 33) gibt er dem kapitalistischen Westen die Schuld an dem nicht bestrittenen Terrorsystem Stalins. Wenn die kapitalistischen Staaten den Sozialismus nicht freundlich unterstützen, muss dieser den Weg der Gewalt gehen! Das Analogon dazu lautet: wer einem Menschen nicht sofort das gibt, was er fordert, macht ihn zum Räuber. Eagleton unterzieht den Sozialismus nicht einem evolutionären Vergleich mit anderen Systemen, z. B. der Marktwirtschaft, sondern fordert für ihn als dem einzig wahren System eine Sonderstellung, die auch die konkurrierenden Systeme anzuerkennen haben. Den Kapitalismus wirft er mit dem Konkurrenzsystem der Marktwirtschaft in einen Topf und brandmarkt des Öfteren explizit den Wettbewerbsgedanken, weil er die Menschen angeblich zu Feinden macht. Natürlich ist Eaglaton als Marxist Gegner des Privateigentums, wobei er diese Gegnerschaft nirgends auf große Vermögen beschränkt. Alles Eigentum ist von Übel, und als Kronzeugen dafür zitiert er unter anderen Jean Jacques Rousseau, der nicht unbedingt als Experte der modernen Industrieproduktion gilt. Ironischerweise gesteht er nur dem Kapitalismus die Fähigkeit zu, Reichtum und Wohlstand zu erschaffen. Dem Sozialismus als „natürlichem Nachfolger“ des Kapitalismus bleibt es dann vorbehalten, diesen Reichtum zu verteilen (S. 57). Auf den Gedanken, dass dieser Reichtum Tag für Tag neu erschaffen werden und nach dieser Logik im Sozialismus in kurzer Zeit verschwinden muss, kommt er nicht. Ebenso stellt er immer wieder fest, dass der Kapitalismus die Armut erzeuge und vergrößere (S. 151). Dass in der Marktwirtschaft die Einkommensunterschiede teilweise unsittlich groß sind, ist Gemeinwissen, dass aber der durchschnittliche Wohlstand in diesen Gesellschaften größer als in sozialistischen ist, ebenfalls.
Den Sozialismus/Marxismus verbindet Eagleton geradezu automatisch mit allen positiven Eigenschaften. Da sich die Produktion in der Hand des Volkes befindet, herrschen Frieden, Eintracht, Gleichheit, und jeder kann seine Zeit nach Belieben einteilen und seine Liebhabereien pflegen. Wie unter diesen Bedingungen die Versorgung mit allen Gütern und Dienstleistungen – besonders den unangenehmen – einer Massengesellschaft sichergestellt sein soll, bleibt sein Geheimnis.
Generell fällt auf, dass Eagleton die o.a. zehn Kritikpunkte nicht aus einer „objektiven“ Sicht mit rein logischen Argumenten widerlegt, sondern die marxistische Lehre und Marx´ Schriften solange interpretiert, bis die Kritik „aufgeweicht“ ist. Will sagen: er setzt die Behauptung, Marx habe Recht, als Beweis ein. Bei dem Punkt „Utopie“ spekuliert er über die glückliche Zukunft im Sozialismus, ohne dafür einen schlagenden Beweis anzubringen. Im Sozialismus sind die Menschen dank Gleichheit gut! Selbstredend betrachtet er materielle Ungleichheit per se als skandalös, ohne dies weiter begründen zu müssen. Er scheint auch zu glauben, dass mit einer materiellen Gleichheit die allgemeine Gleichheit – Aussehen, Begabung, Wirkung auf andere Menschen – automatisch gegeben sei. Explizit behauptet er (S. 111), dass die schlechten Eigenschaften der Menschen im Sozialismus zwar nicht verschwänden, wegen anderer Institutionen jedoch bei weitem nicht so extrem wie im Kapitalismus seien. Wie diese Institutionen aussehen(sollen), sagt er jedoch nicht. Weiterhin stellt er in aller Naivität fest, dass es im Sozialismus weder private Industrie noch private Medien geben werde (S.112), sagt aber nichts darüber, wer über die Inhalte der Medien befindet.
Den Vorwurf des Materialismus dreht er um und verwendet ihn gegen den Kapitalismus, da dieser die Ware als Fetisch einsetze. Dass hierin durchaus Wahres liegt, ist auch in der Marktwirtschaft unwidersprochen und dient dort immer wieder als Anlass der Kritik. Dass die Wirtschaft die Grundlage aller menschlichen Gesellschaften bildet, ist – von einigen Sekten vielleicht einmal abgesehen – Allgemeinwissen. Eagleton macht daraus jedoch den „guten“ Materialismus des Marxismus und den „schlechten“ des Kapitalismus. Auch hier wieder bleibt er die Erklärung schuldig, wie er die vernünftige Beschränkung auf das materiell „Nötige“ ohne Zwang (siehe 70 Jahre Sozialismus) erreichen will.
Explizit wirft Eagleton dem Kapitalismus vor, dass er das Privateigentum nicht verbieten und den Kindern in der Schule nicht „die Übel des wirtschaftlichen Wettbewerbs vor Augen führt“. Das heißt vom Kapitalismus zu verlangen, dass er sich selbst abschafft. Das kann aber nur jemand fordern, der nicht über unterschiedliche, prinzipiell gleichberechtigte Gesellschaftsentwürfe zu diskutieren bereit ist sondern seinen Entwurf als die absolute Wahrheit betrachtet.
Den Kritikpunkt, die Arbeiterklasse sei doch längst verschwunden, kontert er mit der Behauptung, die bürgerliche Klasse sei verschwunden und durch Finanzmanager und Spekulanten ersetzt worden. Hier beweist er nicht Marx sondern geht mit Holzhammerargumenten in die Gegenoffensive. Auf der anderen Seite erweitert er die Arbeiterklasse kurzerhand um alle abhängig Beschäftigten. Den Widerspruch, dass man die im Marxismus so zentralen „Produktivkräfte“ im Sinne einer materiellen Produktion auf Dienstleister nicht mehr anwenden kann, ignoriert er. Auch das beliebte Argument, dass der Kapitalismus die einerseits benötigte Arbeiterklasse andererseits ausschließe, führt er wieder an, ohne es an aktuellen Beispielen und Strukturen zu beweisen. Die ungebrochene Macht von Gewerkschaften in vielen Ländern spricht eine andere Sprache.
Ein besonders schönes Beispiel von Eagletons Argumentation kann man in Kapitel 8 nachlesen. Auf Seite 210 behauptet er, das nach der Machtergreifung der Bolschewiki die angebliche Zwangskollektivierung im allgemeinen Einvernehmen geschehen sei. Die Geschichte – Kulaken! – spricht hier eine andere Sprache. Weiterhin behauptet er, dass (fast) alle Marxisten die Terrorregime von Stalin und Mao Tse Tung als solche eingestehen, Nichtmarxisten jedoch Dresden und Hiroshima verteidigen würden. Woher er diese Verallgemeinerung nimmt, bleibt rätselhaft.
Abschließend noch ein Ausblick in die Minderheitenpolitik. Man wirft dem Marxismus ja auch vor, er habe sich wenig um die Frauenemanzipation und um Minderheiten gekümmert. Eagleton dreht auch hier den Spieß um und behauptet, das kapitalistische System sei solange indifferent (nicht „tolerant“!) gegenüber allen Minderheiten, wie es sie ausbeuten könne. So kann man die wichtigsten Artikel in den Verfassungen verschiedener westlicher Staaten natürlich auch uminterpretieren. Dem Marxismus dagegen unterstellt er, alle Minderheiten wenn nicht explizit dann implizit wohlmeinend berücksichtigt zu haben.
Eagletons Buch ist nicht deswegen ärgerlich, weil er versucht, den Marxismus zu rehabilitieren, sondern weil er auf Kritik entweder dessen Thesen einfach wiederholt, umdeutet oder die Kritik in Form einer „Retourkutsche“ einfach umdreht und gegen die Kritiker wendet. Die Tatsache, dass er wenig objektiv zwingende Gegenargumente findet, lässt darauf schließen, dass die Kritik vielleicht doch nicht so abwegig ist. Außerdem fällt es schwer, das tatsächliche Scheitern des Sozialismus´(bis jetzt!) nur dem Klassenfeind zuzuschreiben, der die zarte Blume des Systemwechsels nicht erblühen lässt. In der Evolution hat sich bisher immer das Lebensfähigere und nicht das Gewünschte durchgesetzt. Vielleicht sollte sich auch Eagleton einmal mit den Gesetzen der Evolution beschäftigen.
Das Buch „Warum Marx recht hat““ ist im Ullstein-Verlag unter der ISBN 978-3-550-08856-8 erschienen, umfasst 285 Seiten und kostet 18 €.

Frank Raudszus
 

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar