Caroline Brothers: „Niemandsland“

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1208_niemandsland.jpg Ein literarisches Denkmal für die Flüchtlinge dieser Welt

Alljährlich erfährt man aus Fernsehen und Presse vor allem im Sommer von Flüchtlingen, die große Gefahren auf sich nehmen, um aus ihren Heimatländern zu fliehen und in Europa ein neues Leben zu beginnen. Ob in jedem Fall politische Verfolgung der Grund ist oder ob sie sich einfach nach besseren wirtschaftlichen Verhältnissen sehnen – bis hin zur Vorstellung von Europa als Schlaraffenland! – ,sei dahingestellt. Auf jeden Fall stellt dieser stete Flüchtlingsstrom eine menschliche Herausforderung für Europa dar. Caroline Brothers setzt den Namenlosen, die zu Fuß durch Wüsten und in kaum seefähigen Booten über das Meer kommen, ihren Sehnsüchten und ihren Leiden ein Denkmal.
Hauptpersonen ihres Romans sind zwei Jugendliche aus Afghanisten, die fast ihre gesamte Familile verloren haben. Vater und Mutter fielen Autobomben zum Opfer, die älteren Brüder wurden ermordet oder sind auf der Flucht vor den Taliban verschollen. Der vierzehnjährige Orjon, selbst noch ein halbes Kind, hat die Vaterrolle für seinen achtjährigen Bruder Kabir übernommen und versucht, auf geheimen Wegen London zu erreichen, wo entfernte Verwandte leben und wo sie hoffentlich zur Schule gehen können.
Die Handlung setzt ein an dem Grenzfluss zwischen der Türkei und Griechenland, den die beiden mit einer Gruppe anderer Flüchtlinge nachts auf kleinen Gummibooten überqueren. Vorher haben sie bereits Monate in Istanbul verbracht und sich mit harter Arbeit das Geld für die Schlepper verdient, die sie über die Grenze bringen sollen. In Griechenland fahren sie jedoch nicht direkt nach Patras zur Fähre nach Italien, sondern werden von den Schleppern buchstäblich an einen Bauern verkauft, der sie als billige Arbeitskräfte einsetzt. Selbst den kargen Lohn erhalten sie nur einmal, dann nie mehr, weil er angeblich mit dem Weitertransport verrechnet werden soll. Trotz der minderwertigen Verpflegung, der primitiven Unterkunft und der schlechten Behandlung arbeiten sie bis zur Erschöpfung für ihre Weiterfahrt. Erst als ein Lastwagenfahrer sich an Kabir vergeht, fliehen die beiden Jungen in einem günstigen Moment und schlagen sich auf eigene Faust bis nach Patras durch, wo es wieder darum geht, einen Platz im Lastwagen auf der Fähre nach Italien zu ergattern. Das noch aus der Türkei mitgebrachte Geld schmilzt dahin, und die beiden kommen mit den letzten Euros in Italien an. Mit Glück – trotz Betrugs durch andere Flüchtlinge – kommen sie bis nach Rom, wo sie der afghanische Kontaktmann – selbst ein armer Flüchtling – jedoch nur zwei Tage aufnehmen kann. An der französischen Grenze werden sie sofort entdeckt und zurückgeschickt, wo sie ohne Geld an der Grenze sitzen. Nachts schleichen sie sich über die grüne Grenze. Hungrig, durstig und in jeder Hinsicht abgerissen lernen sie zufällig ein amerikanisches Urlauberpaar mit iranischen Wurzeln kennen, das ihnen mit Essen, Kleidung und Fahrkarten nach Paris weiterhilft. Das erste Mal seit über einem Jahr genießen sie richtiges Essen und das Gefühl nagelneuer Kleidung und fühlen sich richtiggehend glücklich.
Das wahre Martyrium beginnt jedoch in Calais, wo alle Flüchtlinge mit Ziel England wegen der gnadenlosen Grenzkontrollen hängenbleiben. Monate verbringen sie bei Kälte und Schnee in baufälligen Häusern oder selbstgebauten Hütten, liefern sich Scharmützel mit der Polizei, die ihre Unterkünfte zerstört, müssen mit minimalen Nahrungsmittel auskommen und geben doch die Hoffnung auf eine gelungene Kanalüberquerung nicht auf. Wie durch ein Wunder erhalten sie noch einmal Geld von entfernten Verwandten aus dem Iran, um die Schlepper bezahlen zu können.
Es gibt kaum eine vernünftige Chance, den Kontrollen der Grenzer zu entkommen, außer bei einer sehr gefählichen Variante, die Orjon lange nicht akzeptieren will. Als er sich schließlich aus Verzweiflung doch für diese Variante entscheidet, gelingt zwar der heimliche Grenzübertritt, aber zu einem fürchterlichen Preis.
Caroline Brothers hat offensichtlich bewusst zwei alleinstehende Kinder als Protagonisten gewählt, um von vornherein den Verdacht der Wirtschaftsflucht auszuschließen und eine Identifikation der Leser bzw. Hörer mit den Hauptpersonen sicherzustellen. Das ist durchaus legitim, auch wenn es vielleicht statistisch nicht die Wirklichkeit widerspiegelt. Markus Hoffmann verleiht in der Rolle des Sprechers den beiden Jungen eine überzeugende Identität. Zwar berichtet er aus der Perspektive des älteren Orjon, aber zwischendurch kommt immer wieder der kleine Kabir zu Wort, und Hoffmann gelingt es dabei, eine Atmosphäre zu erzeugen, die weitab jeder süßlichen Sentimentalität den Zuhörer spontan anrührt. Man lebt und leidet mit diesen beiden tapferen Jungen, die nie die Hoffnung verlieren und immer das ferne Ziel „London“ im Auge behalten.
Das Hörbuch umfasst fünf CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 409 Minuten, ist im Audio-Verlag unter der ISBN 978-3-86231-173-6 erschienen und kostet 19,99 Euro.

Frank Raudszus

 

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