Tomáš Sedláček: „Die Ökonomie von Gut und Böse“

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1208_sedlacek.jpgTomáš Sedláček: „Die Ökonomie von Gut und Böse“

Ein Plädoyer für eine neue Ethik der Wirtschaftswissenschaften

Die seit nunmehr fast vier Jahren anstehende Finanzkrise – Erst Lehman, dann Schulden – hat gezeigt, dass die Wirtschaftswissenschaft weit davon entfernt ist, einerseits profunde Vorhersagen zu treffen und andererseits einstimmige, schlüssige Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Der tschechische Wirtschaftswissenschaftler Tomás Sedláček hat nicht zuletzt diese Tatsache zum Anlass genommen, sich grundsätzliche Gedanken über sein Fachgebiet und dessen Einbettung in die gesellschaftliche Umgebung zu machen.

Die Wirtschaftswissenschaften befassen sich mit den Motiven, Strategien und Ergebnissen des wirtschaftlichen Handelns der Menschen. Daher sind sie offiziell den Gesellschaftswissenschaften zugeordnet. Doch standen ihre Vertreter gerade bei den Naturwissenschaftlern lange unter dem nicht ganz ungerechtfertigten Verdacht, nicht exakt vorzugehen. Diesen Vorwurf hätte man zwar mit einigem Selbstbewusstsein mit dem Verweis auf den Charakter einer Gesellschaftswissenschaft entkräften können, doch die Wirtschaftswissenschaft ließ sich offensichtlich derartig von dem rasanten Aufstieg der exakten Naturwissenschaften beeindrucken, dass sie ihnen nachzueifern versuchte. Sedláček zeigt deutlich, dass noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die gesellschaftswissenschaftliche – und damit psychologische und philosophische – Seite deutlich überwog, danach aber die Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaften unaufhörlich zunahm, so dass sie heute nur noch in mathematischen Modellen denkt. Die heutige, positivistische Sicht der Wirtschaftswissenschaften kennt nur noch Fakten, Zahlen und Modelle und hält ethische Fragen bewusst aus ihren Überlegungen heraus. Die Schuldenkrise und die fragwürdigen Praktiken der Investmentbanken zeigen jedoch laut Sedláček deutlich, dass hier eine Rückbesinnung und Neujustierung der Wirtschaftswissenschaften dringend erforderlich ist.

Um diese These zu untermauern, geht Sedláček im ersten Teil des Buches weit zurück zu den Anfängen der Zivilisation, um zu untersuchen, wie alte Kulturen und Religionen über die Wirtschaft gedacht haben. Den Anfang macht das berühmte Gilgamesch-Epos aus Uruk (dem heutigen Irak). In diesem Epos umgibt Gilgamesch die Stadt Uruk mit einer Mauer, um sie vor der gefährlichen weil unkontrollierbaren Natur zu schützen. Die Götter schicken ihm Enkidu, der für das Naturverbundene, Chaotische steht. In ihm findet Gilgamesch jedoch einen Freund, und vereint bestehen die beiden viele Gefahren und überwinden hohe Hindernisse. Die Symbolik ist klar: die Zivilisation – hier vertreten durch Stadt und Mauer -, darf sich nicht gegen die Natur absetzen, sondern muss sie integrieren, um erfolgreich zu sein. Dieser „Erfolg“ besteht dann zum Beispiel darin, dass die beiden Freunde die hochwertigen Zedern fällen, die damals wegen ihres Wertes fast kultischen Status besaßen. Enkidu selbst wird „gezähmt“ und zu einem Mitglied der effizienten weil arbeitsteiligen Stadtgesellschaft gemacht. Die antike Sicht sah die Stadt als eindeutigen Fortschritt gegen über der ungezähmten und stets gefährlichen Natur, und die Wirtschaft war ein wesentlicher Teil des fortschrittlichen Stadtlebens.

Das Alte Testament der Hebräer gilt heute als Geburtsstätte des Kapitalismus. Das teleologische Weltbild der Hebräer – am Ende kommt der Messias – steht dem Fortschritt positiv gegenüber und fördert ein Langzeitdenken, das Investitionen erst möglich macht. Reichtum war keine Schande sondern Ergebnis harter Arbeit, und auch der Genuss war akzeptierter Teil der Lebensführung. Dabei bestand jedoch für jeden Hebräer eine soziale Verpflichtung der Gemeinschaft und den Schwachen gegenüber. Die Hebräer hatten eine pragmatische Sicht des Lebens, entheiligten die Helden der Vorzeit und erlaubten Kritik an der Politik der Herrschenden. Der Moralkodex war flexibel und diente in erster Linie der Verbesserung des Lebens und der Menschen.
Eine zentrale Stelle – aus der Sicht der Wirtschaft – ist der Traum des Pharao von den sieben fetten und den sieben mageren Kühen. Josef interpretiert dies als eine Phase guter (Boom-Phase) und einer anschließenden Phase schlechter Ernten (Rezession). Man müsse in guten Jahren Rücklagen für die schlechten bilden. Das sind bereits handfeste wirtschaftliche Strategien! Das Alte Testament kennt keine Verlagerung der Abrechnung von „Gut“ und „Böse“ in das Jenseits, sondern kennt die weltliche Belohnung für gutes Wirtschaften. Das heißt jedoch nicht, dass man durch „gute Taten“ eine Belohnung erkaufen kann.
Als weitere wirtschaftliche Konzepte kannten die Hebräer neben dem Sabbat (Ruhetag) noch das „Jubeljahr“ (jedes 7. Jahr), in dem alle Schulden erlassen wurden, und nach 49 Jahren (7 mal 7!) wurde sogar der Grundbesitz neu verteilt, um kumulierte Verzerrungen wieder gerade zu rücken. Bei den Hebräern galt übrigens die Natur als gut („Garten Eden“!) und die Stadt als tendenziell schlecht („Sodom und Gomorrha“!).

Das antiken Griechenland wiederum kannte ausgeprägte Philosophenschulen, deren Lehren unmittelbare Auswirkungen auf die Wirtschaft hatten. Die Stoiker lebten nach äußeren, unveränderlichen Regeln und sahen die Askese als höchstes Ziel, die Epikureer dagegen kannten nur von innen – den Menschen – gesetzte Regeln, die sich nach dem Nutzen der jeweiligen Handlung richteten, wie immer dieser Nutzen auch definiert wird. Daher wurden (und werden) sie auch „Hedonisten“ genannt. Schon Hesiod (ca. 700 v. Chr.) hat die Arbeit als Tugend und Quelle alles Guten bezeichnet, während „die Götter die Faulen hassen“. Xenophon (um 400 v. Chr.) wiederum schrieb über „gute Haushaltsführung“ sowie „Geldbeschaffung für den Staat“ und schlug sogar explizit vor, den Handel auszuweiten, die Arbeitsteilung zu intensivieren und die Gewinnmaximierung anzustreben. Sein Zeitgenosse Platon dagegen betrachtete die „reale“ Welt nur als Abbild einer nicht erkennbaren „wahren“ Welt (Höhlengleichnis) und verfolgte asketische Ideale. Bei ihm sollte ein Elite-Kader aus Philosophen regieren, deren Kinder extern erzogen wurden. Die Masse dagegen sollte arbeiten und die Kinder selbst erziehen. Platon lehrte ein durch und durch rationales Weltbild, das sich ausschließlich aus (seinen) Ideen rekrutierte, und war damit sozuasagen ein antiker Vertreter des „real existierenden Sozialismus“. Sein Gegenspieler und Schüler(!) Aristoteles sah sich dagegen als Empiriker und glaubte nicht an den asketischen Menschen. Der Mensch erschafft sich seine Ideen – und damit die Regeln – selbst. Für Aristoteles ist der Mensch ein soziales Wesen („zoon politicon“), das Austausch mit seinesgleichen braucht. Die Auswirkungen dieser beiden Schulen auf die Wirtschaft liegen auf der Hand. Platon misst diesem Tätigkeitsbereich des Menschen keine besondere Bedeutung zu (–> Askese), während Aristoteles das wirtschaftliche Handeln als immanente, empirisch begründete und gut erforschbare Eigenschaft des Menschen betrachtet.

Auch das Christentum setzt sich intensiv mit der Wirtschaft auseinander. Die Gleichnisse vom nachlässigen Diener, von den Arbeitern im Weinberg und vom klugen Verwalter belegen dies eindeutig. Das religiöse Prinzip von Vergebung und Gnade des Neuen Testaments schlägt sich im Schuldenerlass nieder, und milde Gaben müssen dem Selbstzweck folgen und dürfen auf keinen Fall in Erwartung einer (jenseitigen) Belohnung erfolgen. Das „Hinhalten auch der anderen Backe“ bricht im Neuen Testamanent den „circulus vitiosus“ des alten „Aug um Auge, Zahn um Zahn“, jedoch darf man nie fragen, ob sich das Gute „rechnet“. Die himmlilsche Gnade kennt keine Rechenschaft. Der berühmte Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ verweist wiederum auf eine gesunde Eigenliebe, die auch den eigenen „Nutzen“ einschließt. Für Sedláček ist der berühmte „Sündenfall“ im Paradies nichts als der „Konsum eines Apfels“, womit auch die Sündhaftigkeit des Konsums, die heute wieder stark diskutiert wird, tendenziell angelegt ist. Sehr aufschlussreich ist der Hinweis auf das Paradoxon der „Erkenntnis von Gut und Böse“: durch den unerlaubten Apfelgenuss gelangen die ersten Menschen zu eben dieser ihnen nicht erlaubten Erkenntnis. Andererseits erwartet das Christentum von seinen Gläubigen die Befolgung des Guten und die Ablehnung des Bösen. Wie soll das möglich sein, wenn schon die Unterscheidungsmöglichkeit sündhaft ist?

Die Arbeit gehört im Christentum zum Menschen („wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“), und das Privateigentum wird prinzipiell akzeptiert, verliert jedoch in Notzeiten seine Berechtigung. Die Reichen dürfen reich sein, sollen aber teilen. Sedláček zitiert auch ausführlich Augustinus und Thomas von Aqion. Für letzteren ist das Böse Teil dieser Welt – Gott hat Satan bewusst als das Böse geschaffen und in die Welt gesetzt – und schlägt sich in der „unsichtbaren Hand des Marktes“ nieder, die jedoch erst später zum ökonomischen Begriff wird.

Auch René Descartes widmet Sedláček ein längeres Kapitel. Dessen rationaler Determinismus ist für Sedláček ein Angriff auf Aberglauben und Mythen des Mittelalters und sein „Cogito, ergo sum“ eine rationale Reduktion. Descartes kennt für ihn keine gesellschaftlichen oder sozialen Triebkräfte. Kritisch betrachtet Sedláček eine Reihe von Schlussfolgerungen Descartes´, so den Gottesbeweis („Gott muss es geben, weil es die Idee von ihm gibt“) oder seine Theorie der Sinnestäuschungen. Vielen Schlussfolgerungen des französischen Philosophen liegen entsprechende Annahmen zugrunde, so dass er sich letztlich in zirkulären Gedankengängen bewegt. Die Hauptkritik Sedláčeks an Descartes lässt sich in dem Satz zusammenfassen: Rationalität ohne Menschen ist gegenstandslos.

Bernard Mandeville (1670-1733) ist der „Sozialtheoretiker“, der den Nutzenaspekt der Wirtschaft am reinsten herausgearbeitet hat. Für Mandeville basiert aller Wohlstand auf menschlichen Lastern, die demnach zu akzeptieren wenn nicht gar zu fördern seien. Für Mandeville braucht eine florierende Wirtschaft die Gier der Menschen, was nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Eine Gesellschaft voller betender Asketen könnte keinen reichen Wohlfahrtsstaat hervorbringen. Manche Äußerung des eigenwilligen Niederländers könnte man aber eher satirisch – oder zynisch – auffassen, doch Sedláček nimmt ihn beim Wort und gesteht ihm nicht einmal Ironie zu.

Adam Smith (1723-1790) gilt als der Urheber der ominösen und oft heftig kritisierten „unsichtbaren Hand des Marktes“. Sedláček entlarvt diese Zuschreibung jedoch als Vorurteil bzw. als lange tradierten Irrtum. Smith hat diesen Begriff in seinem gesamten Werk ganze drei Mal erwähnt, und nur in zwei Fällen davon in ökonomischem Sinn. In diesen beiden Fällen betrachtet er die angeblich „unsichtbare Hand des Marktes“ jedoch eher kritisch als zustimmend. Smith war laut Sedláček eher ein Anhänger der Stoiker, für den die Sympathie der Menschen untereinander die Gesellschaft zusammenhalten. Adam Smith hat auch Mandeville für sich neu interpretiert und dabei das Laster „Eigenliebe“ ind ide Tugend „Eigennutzen“ umdeklariert. In seinen beiden Hauptwerken – „Wohlstand der Nationen“ und „Theorie der ethischen Gefühle“ – widerspricht er sich laut Sedláček mehrfach selbst, und in seinen späteren Werken kommt Smith zu der Erkenntnis, dass die Ökonomie auf Ethik und Philosophie basiert.

Im zweiten Teil seines Buches zieht Sedláček die Schlussfolgerungen aus seiner historischen Rückschau. Die „Gier“ ist für ihn eine wesentliche Triebkraft des Menschen, der stets mit dem „Ist“ unzufrieden ist und nach einer Maximierung des Nutzens und der Effizienz strebt. Für Sedláček schafft die Nachfrage stets neue Bedürfnisse und damit neue Nachfrage. Die „Abschaffung der Genügsamkeit“ hat zu dem Mantra des BIP und einer unhinterfragten Wachstumsideologie geführt. Die Tautologie der Nutzenmaximierung besteht darin, dass der Nutzen nur durch sich selbst definiert ist. Für jede Handlungsvariante des Menschen lässt sich ein Nutzen definieren, so dass man am Ende zu dem wissenschaftlichen Leersatz kommt „Der Mensch macht, was er will“. Sedláček greift noch einmal explizit die Entscheidung heutiger Ökonomrn ud Politiker auf und an, in guten Jahren keine Rücklagen zu bilden. Selbst in wirtschaftlichen Boomzeiten nehmen die Staaten noch Schulden auf, um weitere „Wohltaten“ an das Volk zu verteilen.

Auch dem Fortschritt widmet Sedláček ein längere Ausführung. Hat er einen Wert an sich oder ist er nur ein Götze, der alle Probleme lösen soll? Die durch den Fortschritt erreichte Effizienzsteigerung wird automatisch als Nutzen definiert. Doch eine inhaltliche Zieldefinition für die Ökonomie über diese Effizienz hinaus liegt nicht vor. Ließe sich eine Sabbat-Ökonomie – wie bei den Hebräern – mit Schuldenerlassen etc. denken? Der Marxismus-Leninismus hat die Probleme auch nur tautologisch und mit Zirkelschlüssel „gelöst“. Für Marx ließ sich alles und das jeweilge Gegenteil auf ökonomische Gründe und vor allem auf den Klassenkampf zurückführen. Eine Theorie, die jedoch eine Behauptung und ihr Gegenteil auf dieselben Ursache zurückführt, ist nicht falsifizierbar und damit sinnlos. Die Gier und der Drang nach Effizienz schaffen laut Sedláček jedoch nur kurzfrisige Zufriedenheit, und der Zustand nach der Zufriedenheit ist die Leere. Die angeblich „unsichtbare Hand des Marktes“ schwebt ungebrochen über der Wirtschaft, und Sedláček bringt die aktuelle Situation mit dem Bonmot auf den Punkt: „Heute besteht nur ein Mangel am Mangel“.

Zum Schluss kommt Sedláček wieder auf die Begriffe „Gut“ und „Böse“ zurück. Das Böse war bei den Hebräern dem Guten untergeordnet, im Christentum nimmt es dabei hierarchisch denselben Rang ein. Da das Böse keine eigenen Ziele haben kann – welche könnten es denn sein? – , leiht es sich die Ziele vom Guten, um sie zu zerstören. Hier kristallisiert sich sozusagen das Gegenstück zu Mephistos Selbstdefinition heraus: „Ich bin ein Teil der Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Der „homo oeconomicus“ der heutigen Wirtschaftstheorie ist für ihn ein klassischer Vertreter des Sozialdarwinismus. Dieser landet letztlich jedoch bei der zirkulären Erkenntnis, dass nur die überleben, die überlebt haben, d. h. die Überlebenden werden „a posteriori“ als die Stärkeren definiert.

Für Sedláček folgt die moderne Ökonomie in einer seltsamen Ironie der Behauptung von Karl Marx: Es gibt kein „movens“ außer den mathematischen Modellen der Wirtschaft. Ethik und Moral sind nicht Vorbedingungen wirtschaftlichen Handelns sondern ergeben sich aus diesem – oder nicht. Die Ökonomie hat das Thema „Ethik“ abgehakt und folgt einem falschen Verständnis von Adam Smith als Pseudo-Naturwissenschaft. 

Das Buch sollte man allen Wirtschaftswissenschaftlern als Pflichtlektüre auf den Nachttisch legen; es ist aber zu befürchten, dass gerade diese Klientel es mit einem Achselzucken und einer Bemerkung über „Unwissenschaftlichkeit“ ignorieren wird. 

Das Buch ist im Hanser-Verlag unter der ISBN 978-3-446-42823-2 erschienen, umfasst 447 Seiten und kostet 24,90 Euro.

Frank Raudszus
 

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