Stephan Thome: „Fliehkräfte“

Print Friendly, PDF & Email

1209_fliehkraefte.jpg

Ein Roman über verlorene Träume und fragile Beziehungen

In der Naturwissenschaft treten Fliehkräfte auf, wenn ein Körper um einen Mittelpunkt kreist. Die Kreisbahn bedeutet eine permanente Änderung der Bewegungsrichtung, und die Massenträgheit des Körpers reagiert darauf mit dem Versuch, eine gerade Richtung beizubehalten. Er folgt der Tendenz, die Kreisbahn tangential zu verlassen. Je größer der Radius des Kreises und je höher die Geschwindigkeit, desto stärker ist die Fliehkraft.

Dieses naturwissenschaftliche Prinzip lässt sich auf die menschlichen Beziehungen übertragen: je größer die Entfernung zwischen zwei Partnern und je schneller sie sich bewegen, desto höher ist die Gefahr, dass sie sich beide aus den Augen verlieren und dass letztlich die Bindung zerreißt. Der gerade vierzigjährige Stephan Thome wählt genau eine solche Konstellation, um die Belastbarkeit von Beziehungen und die typischen Missverständnisse im Geschlechterverhältnis zu thematisieren. Erstaunlicherweise ist sein Protagonist jedoch nicht in seinem Alter sondern fast zwanzig Jahre älter. Doch Stephan meistert das Problem eines Vorgriffs auf eine spätere Lebensphase und schafft Charaktere und Situationen, die keinen Augenblick konstruiert wirken.

Hartmut Hainbach ist Ende fünfzig, kommt aus kleinen Verhältnissen und durfte studieren, während seiner Schwester dieses Privileg verwehrt blieb, weil sie ja doch heiratet – so die Entscheidung des eher schlichten Vaters. Hainbach hat sich den Traum einer Professur durch Beharrlichkeit und Fleiß erfüllt. Er ist in Philosophie promoviert worden und hat sich habilitiert, gehört jedoch eher zum professoralen Mittelfeld. Sein Fachgebiet gilt in Fachkreisen als etwas abseitig, und die Stelle an der Universität Bonn ist zwar gesichert, bietet aber keinen Ansatzpunkt für geisteswissenschaftlichen Ruhm. Eine solche Situation wird oftmals mit der Bemerkung kommentiert, der Betreffende zähle die Jahre bis zum Ruhestand.

Auch Hainbach fühlt eine gewisse Frustration, die er aber in erster Linie auf einfacher zu ertragende Äußerlichkeiten zurückführt. Seine Frau Maria, eine gebürtige Portugiesin, hat wieder eine Arbeit als Regieassistentin am Theater aufgenommen, und zwar ausgerechnet in Berlin. Für Hainbach doppelt unangenehm, da er nicht nur eine Wochenend-Ehe führen muss, sondern auch zusehen muss, wie seine Frau wieder für ihren ehemaligen Chef und Geliebten arbeitet, einen egomanen Theater-Regisseur. Als tolerant-liberaler Mensch des 21. Jahrhunderts weist Hainbach natürlich jeden Gedanken an Eifersucht von sich – schließlich sind wir ja erwachsene Menschen -, aber die Situation nagt doch an ihm.

Als er von einem Berliner Verleger und alten Freund das Angebot erhält, als Lektor für den Verlag zu arbeiten, steht Hainbach vor einer schwierigen : er müsste die sichere Beamtenstelle eines Professors  für eine geringer bezahlte, weniger renommierte und zudem noch unsicherere Stelle in der Wirtschaft aufgeben. Das kann man sich zwar als „Herausforderung“ und „Neuanfang“ schönreden, aber die wirtschaftlichen Nachteile sind offensichtlich. Auf der anderen Seite könnte er seine Ehe wieder auf ein stabiles Fundament stellen. Seine Frau ist offensichtlich nicht bereit, ihre Stelle zugunsten eines – trüben – Lebens in Bonn aufzugeben, und Hainbach wagt es auch nicht, dieses Ansinnen an sie zu stellen.

In einer solchen Situation ist ein Ortswechsel ein gern genommener Ausweg. Kann man sich doch zumindest unterschwellig einreden, mit dem Ort auch das Problem hinter sich zu lassen. Hainbach jedoch argumentiert sich selbst gegenüber, er müsse den Kopf frei bekommen und mit alten Freunden darüber sprechen. Von denen hat er in der Fremde vor allem zwei. Seine erste große Liebe aus seinem Studienaufenthalt in den USA Ende der siebziger Jahre, Sandrine, lebt jetzt allein in Paris. Eine Zeit lang pflegte er neben seiner Ehe sogar ein sporadisches Verhältnis mit ihr, das aus heimlichen erotischen Ausflügen nach Paris bestand. Nun besucht er sie in eher platonischer Absicht, um sich von ihr Rat zu holen. Doch Sandrine hält Distanz zu ihm, da sie nach dem Ende ihrer Affäre sich nicht mehr in sein Leben einmischen will. Seine halbherzig und eher unterschwellig vorgebrachte Bitte um einen Rat erfüllt sie ihm nicht, sondern verweist ihn auf sich selbst zurück. Nach einem wehmütig-nüchternen Abschied wird kein weiterer Besuch in Paris mehr folgen, und Hainbach muss ein wichtiges Kapitel in dem Buch seines Lebens endgültig schließen.

Sein Freund Bernhard arbeitete einst als Juniorprofessor an der Universität, war aber mit der Studienreform nicht einverstanden und hängte nicht nur seine Stelle sondern auch die Philosophie an den Nagel, um an der französischen Atlantikküste einen Weinladen zu übernehmen. Er steht bei Thome für die Aussteiger der letzten Dekaden, die mit teilweise spontanem Aufbruchsgeist und naivem Nonkonformismus das einfache Leben suchten. Daraus hätte Thome eine sarkastische Abrechnung mit den Aussteigern machen können, doch diesen einfachen Weg geht er nicht. Bernhard kann zwar von seinem Weinladen nicht leben und führt deshalb eine stinknormale Bar für Touristen, doch er hat sich sowohl sein Selbstbewusstsein als auch seinen klaren Blick erhalten. Die Tatsache, dass sein Leben mit der Touristenbar keine langfristige Perspektive bietet, kompensiert er mit intensiver privater Arbeit an der Philosophie – so zumindest seine Behauptung gegenüber seinem Freund – und mit einer zur Schau getragenen Abgeklärtheit, die der Leser wahlweise als echt oder als den dünnen Lack der Verzweiflung interpretieren kann. Der Autor lässt diese Person in der Schwebe, und dieser schwebende Charakter prägt auch den Abschied der beiden Freunde, der ebenfalls ein letzter sein könnte.

Die Hainbachs haben auch eine Tochter, die mittlerweile studiert. Hainbach selbst hat sich immer ein zweites Kind gewünscht – hauptsächlich, weil das seinem Sinn von Familie entspricht -, aber seine Frau Maria hat sich offensichtlich nicht endgültig in der Mutterrolle vergraben wollen. Ihre Berufstätigkeit jedoch ist alles andere als befriedigend oder gar beglückend. Ihr ehemaliger Geliebter, der wegen seiner Egomanie und Cholerik ein wenig an Frank Castorf erinnert, lässt seinen gekränkten Stolz anscheinend an Maria aus, denn sie berichtet in Andeutungen von einer schlechten Arbeitsatmosphäre und cholerischen Ausfällen des Regisseurs. Thome lässt diesen Aspekt bewusst im Unklaren. Spontan fragt sich der Leser, warum Maria es sich antut, bei schlechter Bezahlung als „Mädchen für alles“ und Blitzableiter zu dienen, wo sie doch zu Hause ein ruhiges Leben führen könnte. Doch eben darum geht es Thome nicht. Maria hat sich für diesen Weg entschieden und muss ihn nicht gegenüber den Lesern begründen. Ihrem Mann gegenüber vermeidet sie diese Begründung ebenfalls, weil sie genau weiß, dass sie wenig gute Argumente hat. Das beste und einzige liegt darin, dass sie eine Aufgabe hat, die ihr eine Identität verleiht, ganz gleich, wie unangenehm die Arbeit ist. Ob dabei auch Koketterie mit der Arbeit am Theater eine Rolle spielt, bleibt offen. Die mangelnde Kommunikation der Eheleute und die Angst, entscheidende Fragen zu stellen, sind – unter anderem – Thema dieses Buches.

Seine Selbstfindungsreise führt Hartmut Hainbach weiter nach Spanien, wo seine Tochter Philippa studiert. Das Treffen mit ihr entwickelt sich zu einem Desaster. Schon am ersten Abend stellt Philippa seine Toleranz mit einer Erklärung auf die Probe, die seinem Lebens- und Familienverständnis zuwiderläuft. Aus der bereits leicht gespannten Situation entwickelt sich bei der Weiterfahrt am nächsten Tag eine schwerwiegende Auseinandersetzung, die beide ins Mark trifft. Philippa eröffnet ihm einige Neuigkeiten und „Wahrheiten“ über seine Frau und ihre Beziehung, die Hartmut Hainbuch in eine schwere Verunsicherung stürzen. Philippa trägt ihre durchaus berechtigten Vorwürfe mit der Selbstgerechtigkeit der Jugend vor, was sie für Hainbach noch schwerer zu ertragen macht. Zwar versöhnen sich die beiden ohne zweite Aussprache wieder, aber das geradezu naive Verhältnis zwischen Vater und Tochter hat sich grundlegend gewandelt. Philippa braucht ihre Eltern nicht mehr und geht ihre eigenen Wege.

Das Buch endet mit dem Besuch von Marias Eltern in Portugal. Ein Herzanfall hat Marias Vater ins Krankenhaus gebracht und bringt damit die Frage nach Tod und Leben ins Spiel. Die aus Kopenhagen anreisende Maria trifft auf einen verunsicherten, fast ängstlich jegliche Konfrontation vermeidenden Hainbach, und die Art der Kommunikation zwischen den beiden während der Autofahrt lässt mehr als einmal die Vermutung aufkommen, sie wolle sich von ihm trennen. Dass es dann doch nicht dazu kommt – hinter dem Ende des Romans ist alles offen! -, ist eher auf ein seufzendes Einlenken Marias zurückzuführen, denn auch sie hat sich bei der ganzen Affäre mit der Stelle in Berlin einige Eigenmächtigkeiten herausgenommen, die sie erst jetzt beichtet. Frei nach Reich-Ranicki könnte man am Ende feststellen: „Der Vorhang schließt sich, und alle Fragen bleiben offen“.

Stephan Thome erzählt diese im Grunde genommen unspektakuläre Geschichte mit viel Gespür für die psychologische Situation seiner Protagonisten. Alle sind bis ins Mark glaubwürdig, gerade in ihren Zweifeln, ihrer Selbstbezogenheit und in ihren Ängsten. Hainbach hat stets von einem – im positiven Sinne – bürgerlichen Leben mit intellektuellem Anspruch und einer intakten Familie geträumt, und muss nun erkennen, dass Maria und er „zu Parodien ihrer Träume“ geworden sind, eine Bemerkung, die Maria ins Mark trifft, da sie gerade durch ihren Ausbruch Ernsthaftigkeit für sich gewinnen wollte. Doch die Bemerkung trifft auch auf sie zu, denn die Verhältnisse am Theater „die sind nicht so“, und sie will es nicht wahrhaben. Thomé seziert die Charaktere, ohne sie deswegen in ihre Bestandteile zu zerlegen. Sein Protagonist Hainbach bleibt mit all seiner gut gemeinten Selbstbezogenheit eine glaubwürdige und integre Figur, und selbst die sich auf teilweise brutale Weise von ihren Eltern abnabelnde Philippa mutiert nie zum Klischee der heutigen Jugend.
Daneben hat Thome noch einige Personen mit sicherem psychologischen Strich gezeichnet: Hainbachs ehemalige langjährige Geliebte Sandrine, die es nie ganz verwunden hat, dass die Beziehung auseinandergegengen ist, dies aber nie zugeben würde und selbst die Distanz sucht; den Aussteiger Bernhard, der weder als der leuchtende Alternativ-Held und Anti-Bourgeois noch als verzweifelter Versager erscheint sondern als jemand, der das Scheitern erlebt hat und es mit intellektueller Würde in sein Leben integriert. Die Atmosphäre an den Universitäten, vor allem in geisteswissenschaftlichen und philosophischen Fakultäten, erscheint glaubwürdig, wohl auch, weil Thomé auf Karikaturen vor allem der konservativen Professoren verzichtet. Nebenbei vermittelt Thomé dann und wann einen kurzen Einblick in die heutige philosophische Forschung und Lehre, letztere nicht ohne einen gewissen Galgenhumor.

Thomes Stil ist lebendig, ohne deswegen jemals in die Kolportage zu verfallen. Dialoge und innere Monologe werden in einem unprätentiösen und realistischen Stil wiedergegeben, der die Identifikation mit der jeweiligen Person ermöglicht, sie aber nicht erzwingen will. Thome erscheint stets als der Chronist, der die Beziehungen der Menschen untereinander genau beobachtet und mit möglichst echten Worten wiedergibt. Nicht zu Unrecht steht dieses Buch auf der Liste der potentiellen Preisträger der diesjährigen Buchmesse.

Das Buch „Fliehkräfte“ ist im Suhrkamp-Verlag unter der ISBN 978-3-^518-42325-7 erschienen, umfasst 474 Seiten und kostet 22,95 €.

Frank Raudszus

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar