Das Schauspiel des Staatstheaters Darmstadt inszeniert Friedrich Schillers „Jungfrau von Orléans“

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Thomas Dehler (Herzog von Burgund), Simon Köslich (La Hire), Ronja Losert (Johanna von Orleans), Andreas Manz-Kozár (Graf Dunois)
Scheiterhaufen statt Schlachtentod  

Das Schauspiel des Staatstheaters Darmstadt inszeniert Friedrich Schillers „Jungfrau von Orléans“
Das Staatstheater Darmstadt ergänzt die offensichtlich dem Krieg und der Zerstörung gewidmete Reihe von Schauspielen – siehe „Die Götter weinen“ sowie „Kopenhagen“ – mit Schillers „Die Jungfrau von Orléans“ um ein weiteres Kriegsstück, Die französische Nationalheldin Jeanne d´Arc hat tatsächlich gelebt und gegen Ende des Hundertjährigen Krieges Frankreich vor der Unterwerfung durch England gerettet. Doch ihre hochgespannten religiösen Visionen, die sie als direkte Botin der Heiligen Jungfrau Maria auswiesen, passten nach den Anfangserfolgen und der erfolgreichen Krönung Karls des VII. zum französischen König nicht mehr in das politische Konzept, und so ließ man die spätere Märtyerin fallen. Durch Verrat fiel sie den Engländern in die Hände, die sie – frei nach Pontius Pilatus – lieber der französischen Kirche zwecks Verbrennung als Hexe auf dem Scheiterhaufen überließen.

Ronja Losert (Johanna von Orleans)Schiller hat dieses so ungewöhnliche und daher besonders theatertaugliche Frauenleben aufgegriffen und mit entsprechender dichterischer Freiheit dramatisiert. Er überhöht Johannas militärische Erfolge zu einem einzigen Siegeszug, den die Gegner – und auch die eigenen Leute – von Anfang an teuflischem oder göttlichem Wirken zuschreiben. Johanna ist von ihrer göttlichen Mission zum Wohle Frankreichs dermaßen überzeugt, dass sie nicht nur furchtlos in die sonst den Männern überlassenen Schlachten zieht sondern auch nach dem Sieg jegliche erotischen Avancen ihrer hochgestellten Mitstreiter empört abweist. Im Kampf ist sie erbarmungslos und tötet auf Geheiß der Heiligen Jungfrau und entgegen allen selbst im Krieg üblichen menschlichen Gepflogenheiten auch Soldaten, die sich ihr ergeben und um Gnade flehen. Ihr Ende naht, als sie im Endkampf gegen das geschlagene und zerstreute englische Heer auf einen englischen Offizier trifft, bei dessem Anblick sie jeglicher Tötungswunsch verlässt. Ob menschliches Mitleid oder erotische Neigung der Grund ist, lässt sich Schillers Text nicht eindeutig entnehmen, doch Johanna erkennt darin einen Verstoß gegen ihr heiliges Gelöbnis und bricht innerlich zusammen, so dass ihre Gefangennahme durch die Engländer trotz des Gesamtsieges geradezu zwangsläufig erfolgt. Die ehemalige Königin Isabeau strengt einen Hexenprozess gegen sie an, der sich umso leichter inszenieren lässt, als ausgerechnet Johannas Vater ihr öffentlich einen Pakt mit dem Teufel unterstellt. Doch wie es in idealistischen Zeiten so üblich war, zaubert Schiller den „deus ex machina“ aus dem Hut und erlaubt Johanna, bei der entscheidenden, für die Franzosen bereits schlecht stehenden Schlacht ihre Fesseln zu sprengen, sich ein Schwert zu greifen und das Schlachtenglück zu wenden. Tödlich verwundet wird sie von den siegreichen französischen Truppen und vom König selbst gepriesen, ehe sie mit ihrem letzten Monolog ihr Leben aushaucht.

Ronja Losert (Johanna von Orleans)Martin Apelt, Dramaturg und Schauspieldirektor, und regisseurin Lydia Bunk haben das am Ende arg apotheotische Stück vom Kopf auf die Füße gestellt. Die unrealistische Wendung ganz zum Schluss haben sie ganz gestrichen und lassen das Stück der historischen Vorlage entsprechend mit der Verurteilung und dem Tod auf dem Scheiterhaufen enden. Die Inszenierung arbeitet im Wesentlichen die Wendung auf dem Schlachtfeld heraus, wenn Johanna plötzlich merkt, dass sie mitleidlos mordet. Das göttliche Gesetz steht nun im Gegensatz zum irdisch-menschlichen Gesetz. Während es Schiller um die in einem Individuum konzerntrierte, große Idee der nationalen Befreiung und Einigung geht, legt die Darmstädter Inszenierung den Schwerpunkt auf die Wandlung von der heiligen Rächerin zur mitleidenden Frau, die an ihrer eigenen Widersprüchlichkeit scheitert. Nach der Tötungshemmung im letzten Kampf verliert Johanna jeglichen Antrieb und überlässt sich widerstandslos der irdischen Gerechtigkeit. Den Widerspruch zwischen der heiligen und der menschlichen Pflicht kann sie nicht auflösen, also geht sie freiwillig in den Tod.

Um diesen Kern hat Lydia Bunk die politischen und höfischen Intrigen drapiert. Dabei weicht sie die klassische Deklamation schillerscher Prägung durch eine moderne „Doppelzüngigkeit“ auf. Die Darsteller konterkarieren Schillers rhythmische Verse immer wieder mit umgangssprachlichen Einsprengseln aus dem heutigen Straßenjargon, sei es ein aufforderndes „Häh?“ oder ein salopp-aggressiver Kommentar zu dem Geschehen oder einer Rede. Vor allem Andreas Vöglers Dauphin Karl, später Karl VII., übt sich in dieser bewusst anachronistischen Sprechweise, da er die zerrissenste Figur aus dem Kreis der Herrschenden darstellt. Zum König geboren, aber land- und machtlos und dem fast sicheren Untergang geweiht, muss er seinen Untergebenen und Mitstreitern permanent einen Optimismus vorgaukeln, den er schon längst nicht mehr aufbringen kann. Karl zerbricht förmlich unter der historischen Last, flüchtet sich in die Rolle eines „Bonvivant der letzten Tage“, der dem Untergang mal mit laut lachendem Zynismus, mal mit heulender Verzweiflung entgegengeht, und steht dem unverhofften Glück der heldenhaften Jungfrau fast fassungslos gegenüber. Die anderen soldatischen Rollen üben diese Zweisprachigkeit zwar auch aus, jedoch in geringerem Maß und nur an gespannten Situationen, die sie dann stets ins Satirisch-Groteske verschieben. Die deklamatorische – bei Schiller fast affirmative – Darstellung kriegerischer Aktivitäten mit heroischem Hauch wandelt die Inszenierung in das blutige Possenspiel spätpubertierender Männer mit dem Hang zum Maulhelden. In zentralen Augenblicken der Handlung versagt sich Lydia Bunk allerdings dieses Spiel mit den Sprachebenen, um die Konflikte sauber über die Bühne zu bringen. So etwa in der Auseinandersetzung zwischen dem abtrünnigen Herzog von Burgund und den Getreuen Karls, die Johanna in letzter Sekunde vor dem Umschlagen in ein Blutbad bewahren kann. In solchen Augenblicken dringt die Ernsthaftigkeit der schillerschen Sprache ungefiltert durch.

Die Figur von Karls Mätresse Agnes Sorel, die Schiller als fast heldenhaft treue Seele anlegt, verteilt Lydia Bunk auf zwei Darstellerinnen, die aus Agnes eine vergnügungssüchtige und nur dem Augenblick lebende „femme fatale“ machen. Diese beiden Zwillingsversionen von Agnes trösten den exaltiert vor sich hin brütenden Karl mit den typischen weiblichen Mitteln – Strümpfe und Strapse –  und die Opferung des persönlichen Schmucks zum Zwecke der Kriegsführung wird bei ihnen zum lustigen Gesellschaftsspiel,, da sie die Gefahr des Untergangs offensichtlich gar nicht wahrnehmen. Ein Schelm, wer dabei an aktuelle Frauen untergehender Staatsmänner denkt. 

Neben der dominierenden Johanna arbeitet Lydia Bunk einige Personen markant heraus. Isabeau, die Mutter Karls und diesem in tiefem Hass verbunden, kommt als Kopie von Margaret Thatcher daher, wohl auch, weil Isabeau die Engländer nicht nur unterstützt, sondern eigenhändig deren jungen Thronprätendenten auf den französischen Thron setzt. Der Herzog von Burgund ist schon deshalb eine Schlüsselfigur, weil er anfangs mit den Engländern gemeinsam gegen Karl kämpft, dann aber unter Johannas eindringlichen Worten die Seiten wechselt.

Nikolaus Porz hat die Bühne in zwei Ebenen geteilt. Auf der oberen, die sich an den Seiten und der Rückwand entlang zieht, spielen sich die staatstragenden Aktivitäten ab. Hier residiert der Dauphin auf einem schäbigen Sessel und turtelt mit seiner doppelten Mätresse.  Eine Schräge führt auf die Bühnenebene hinunter, wo sich die kriegerischen Aktivitäten abspielen. Aus der Rampe ragt ein Rohr, dass einem überdimensionierten Kanalisationsrohr gleicht. Hier werden die Opfer der Schlachten herausgespült, und hier verschwinden sie auch wieder. Die Soldaten als Unrat, den man nach Gebrauch hinwegspült. In der ersten Szene hockt ein zur symbolischen Leiche geschminkter Mann in diesem Rohr und erhebt sich zu Johannas Worten schweigend als Mahnmal in die Höhe, bevor er in das Rohr zurückkriecht. Am Ende wird auch Johanna diesen Weg nehmen. Die Lichtregie unterstreicht diese doppelte Ebene noch: die „Galerie“ ist in helle, leuchtende Farben getaucht, während auf der Rampe (in den Tod) und auf der Bühne tristes Grau vorherrscht.
Andreas Vögler (Karl der Siebente), Ronja Losert (Johanna von Orleans)Die Dramaturgie hat kräftige Streichungen in Schillers Original vorgenommen, so bei den Szenen in Johannas Heimatort und bei der Wendung von der siegreichen zur ketzerischen Johanna. Die Szenen, in denen Johanna der Hexerei beschuldigt wird, kompromiert die Regie in einer einzigen Szene, bei der die vernichtenden Worte der klerikalen Ankläger von drei aus dem Bühnenhimmel herabschwebenden Monitoren wie Peitschenhiebe auf die reglose Johanna fallen. Die Monitore zeigen dazu unablässig sich zur geifernden Rede öffnende Münder. Wer will, kann darin einen unterschwelligen Verweis auf die heutigen Medien sehen, die sich als Meister der Vorverurteilung erwiesen haben. Die mutige Kürzung des Textes verleiht der Inszenierung Tempo und Dichte, die noch durch ineinander übergehende Szenenregie intensiviert werden. Die Inszenierung folgt einem konsequenten Konzept, das keine Abschweifungen zulässt und damit die Strukturen politischer und strategischer Entscheidungen offenlegt. Am Ende sind es immer Menschen, die durch Hingabe, Fanatismus, Rücksichtslosigkeit und Verrat den Fortgang der Geschichte bestimmen. Wer in diesem harten Geschäft plötzlich existenzielles Mitleid verspürt, erstarrt zur Untätigkeit und geht letztlich unter.

Die Darsteller verleihen der Inszenierung hohe Authentizität. Dabei ist natürlich in erster Linie Ronja Losert als Johanna zu nennen, die diese Rolle mehr als nur ausfüllt. Ihr ganzer Körper spiegelt die Besessenheit wider, die Johanna aufgrund der göttlichen Weisung entwickelt. Ihre Unbedingtheit weckt Assoziationen an Dschihad-Kämpfer und Selbstmordattentäter, die ebenfalls ihrer göttlichen Mission ohne Rücksicht auf Verluste folgen, und zeigt nebenbei, dass auch Europa diese Besessenheit einst kannte und heute zum Märtyertum veredelt hat. Ronja Losert gelingt es tatsächlich, bei ihren Auftritten die Bühne zu beherrschen, so wie Johanna den Hof und das gesamte Militär beherrscht. Andreas Vögler legt den Dauphin Karl als manisch-depressiven Charakter an, der angesichts drohender Gefahr die Champagnerkorken knallen lässt und sich im nächsten Augenblick heulend in seinem Mantel vergräbt. Bis zum Schluss ist dieser Karl höchst angespannt und nie berechenbar. Das sind dagegen seine Vasallen Graf Dunois (Andreas Manz-Kozár), Du Chatel (Stefan Schuster) und La Hire (Simon Köslich). Andreas Manz verleiht dem königstreuen Dunois markante und sehr kriegerische, Simon Köslich seiner Figur geschmeidigere Züge. Alle drei treten in Doppelrollen – dann in roten Rüstungen – als englische Militärs auf, wobei Andreas Manz eine gelungene Sterbeszene des englischen Feldherrn Talbot hinlegt, während der Lionel des Simon Köslich nach einem fast rituellen Schwertkampf die plötzliche Gnade Johannas erfährt.
Thomas Dehler hat als Herzog von Burgund, wie bereits erwähnt, eine herausgehobene Stellung, spielt er doch anfangs den Abtrünnigen und später den Gefolgsmann Karls. Diese Wendung mit allen ihren seelischen Komplikationen und aufgegebenen Loyalitäten bringt Dehler mit überzeugender Mimik und Gestik zum Ausdruck. Margit Schulte-Tigges gibt als Isabeau eine überzeugende Thatcher-Kopie, ohne deswegen ins Klischee zu verfallen, Diana Wolf und Katherina Hintzen macht die parodistische Version von Agnes Sorel offensichtlich viel Spaß.

Das Publikum zeigte sich von dieser Inszenierung beeindruckt und spendete kräftigen Beifall.

Frank Raudszus     

 

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