Jonathan Littell: „Notizen aus Homs“

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Chronik eines Bürgerkrieges

Seit über einem Jahr tobt der Bürgerkrieg in Syrien. Die Ereignisse in Tunesien, Ägypten, vor allem aber in Lybien haben dem Aufstand der syrischen Bevölerung entscheidenden Auftrieb verliehen. Da das syrische Regime konsequent allen ausländischen Journalisten die Einreise verbietet oder sie unter strenge Kontrolle und Zensur stellt, sind einige von ihnen auf eigene Faust, mit oder ohne Hilfe der Aufständischen, nach Syrien eingereist und haben ihre Eindrücke geschildert. Dabei sind bereits Journalisten und Fotografen umgekommen; ob durch das Regime oder durch Aufständische, lässt sich bisher nicht mit letzter Sicherheit sagen, da dazu Aussage gegen Aussage steht. Es spricht jedoch viel für eine auf Abschreckung abzielende Ermordung durch die Regierung.

Auch der Autor Jonathan Littell, bekannt geworden durch sein Buch „Die Wohlgesinnten“ über das Dritte Reich, ist diesen Weg gegangen. Mit Hilfe von Aufständischen und ihren Sympathisanten ist er im Januar 2012 vom Libanon aus auf verschlungenen Wegen nach Homs eingeschleust worden und hat dort drei Wochen zugebracht. Seine Notizen waren anfangs lediglich für eine Veröffentlichung in „Le Monde“ gedacht, doch die Dichte und Aktualität haben den Autor bewogen, sie in Form eines Buches zu veröffentlichen, das nun vor uns liegt.

Als Dokumentation eines historischen Ereignisses ist dieses Buch von außergewöhnlicher Aktualität. Knapp ein halbes Jahr nach der geschilderten Ereignissen herausgegeben, schreibt es sozusagen über „noch rauchende Colts“. Eine solche Aktualität eines Buches ist wohl nur möglich, wenn die gestalterische Arbeit auf ein Minimum begrenzt wird. Littell hat genau dies getan. Er wollte bewusst kein literarisches Werk schaffen, das letztlich ästhetische Aspekte über historische stellt, sondern nur das eigene, unmittelbare Erleben der Situation schildern. Dabei geht es ihm weniger um seine eigene Befindlichkeit als um die täglichen und stündlichen Ereignisse in einer geschundenen Stadt.

Homs war Ende 2011 ein Zeichen des Widerstands. Noch war der Aufstand nicht auf Aleppo oder gar Damaskus übergesprungen, noch konnten sich die Streitkräfte mehr oder minder auf eine Stadt konzentrieren, nämlich Homs. Über das Internet kamen schreckliche Videofilme, an deren Authentizität man mangels weiterer Recherchen glauben konnte oder nicht. Jonathan Littell wollte diesem Zweifel für sich, seine Zeitung und die Weltöffentlichkeit ein Ende setzen und möglichst nahe an den Unruheherd heran, um von dort aus unbeeinflusst zu berichten.

Das Buch kennt aus den erwähnten Gründen keine andere Struktur als die der Chronologie. Es beginnt am 13. Januar mit der abenteuerlichen und lebensgefährlichen Fahrt bei Nacht und Nebel durch kleine Grenzdörfer, über matschige Nebenstraßen und durchs freie Feld bis nach Qusair, einem kleinen Ort südlich von Homs, und von dort am nächsten Tag nach Baba Amr, einem südlichen Viertel von Homs, das sich in der Hand der Aufständischen befand.

Von jetzt an notiert er nahezu stündlich die Aktivitäten der Aufständischen, soweit er sie verfolgen kann, die Überfälle der Gegenseite und die laufenden Ortswechsel. Denn natürlich will er nicht in einem besetzten Haus bleiben, sondern möglichst viele Brennpunkte besuchen und Vertreter der Aufständischen kennenlernen. Das größte Problem sind während der ganzen Zeit die Scharfschützen der Gegenseite, die aus gut gesicherten Positionen auf jeden schießen, der sich in ihrer Schusslinie bewegt. Dabei scheinen die Scharfschützen keinem Plan zu folgen, sondern irrational zu handeln. Mal können selbst erwachsene Männer eine gefährliche Straße ohne Beschuss überqueren, dann wieder erschießen die Heckenschützen mitleidlos Frauen und Kinder.

Sobald Littell in seinem jeweiligen Versteck von einem Vorfall hört – das Mobilfunknetz arbeitet zu der Zeit noch -, versucht er, zusammen mit seinem arabischstämmigen Fotografen, an den entsprechenden Ort zu gelangen, um den Sachverhalt zu recherchieren und zu dokumentieren. Das erweist sich jedoch fast immer als schwierig: einmal wegen der gegnerischen Scharfschützen, dann jedoch wegen der Kompetenzrangeleien und auch Streitereien der Aufständischen. Da diese keinem hierarchischen System angehören sondern sich gruppenweise spontan selbst organisieren, lässt sich Autorität schwer etablieren und durchsetzen. Ein besonderes Problem stellen die desertierten Militärs dar. Sobald ein höherer Offizier zu den Aufständischen überläuft, reklamiert er entsprechende Befehlsgewalt, was natürlich auf den Widerstand der bereits aktiven Aufständischen stößt.

Littell lernt in diesen wenigen Wochen eine ganze Reihe unterschiedlichster Menschen kennen, die meisten von ihnen bewaffnete Aufständische. Allen sind ungebrochene Begeisterung und Optimismus eigen, doch die Disziplin lässt in vielen Fällen zu wünschen übrig, was zu Lasten der Effizienz des Aufstands geht. Wenn Littell Zugang zu Verletzten oder Gefolterten erbittet, gibt es immer wieder endlose Streiterien zwischen den Aufständischen, die er mangels arabischer Sprachkenntnisse inhaltlich nicht verfolgen kann. Erst nachher erfährt er in einigen Fällen, woran sich die Streitereien entzündeten. Mal sind es nachvollziehbare Sicherheitsbedenken, mal ist es Argwohn gegenüber dem (christlichen) Ausländer, mal ist es schlichte Eitelkeit von Leuten, die sich übergangen fühlen. Dennoch zeigen alle Aufständischen ein hohes Maß an Freundlichkeit, Fürsorge und sogar Empathie für ihre journalistischen Gäste und helfen ihnen, wo sie können.

Ein besonderes Augenmerk gilt den Ärzten, die unter teils katastrophalen Bedingungen arbeiten und stets um ihr Leben fürchten müssen. Assads Leute wissen nämlich, wie wichtig eine medizinische Versorgung für die Rebellen ist, und bedrohen deshalb übergelaufene Ärzte mit dem Tode. Wenn sie eines dieser Ärzte habhaft werden, ist sein Schicksal so gut wie besiegelt. Dennoch gibt es immer wieder Ärzte, die ihre Praxen aufgegeben haben und in zerschossenen Privatwohnungen Verwundete operieren. Sogar ihre Familien lassen sie im Unklaren, um Repressionen zu vermeiden. Littell beschreibt diese Ärzte ohne Pathos als die eigentlichen Helden des Aufstandes, vor allem, weil sie nicht die Attitüde des Kalaschnikow schwingenden „Kriegshelden“ pflegen, die bei jungen Kämpfern trotz Mut und Todesverachtung durchaus zu beobachten ist.

Als Jonathan Littell Anfang Februar mit viel Glück und halb krank – in Homs ist es um diese Zeit ziemlich kalt und Heizungen gibt es so gut wie keine mehr – über nächtliche Geheimwege wieder in den Libanon ausgeschleust wird, steht Homs noch der große Angriff des Militärs bevor. Bis dahin bekämpfte man sich punktuell an den jeweiligen Straßensperren oder über Scharfschützen, doch einen Großangriff im engen Gewirr der Straßen von Homs traute sich das Militär nicht zu. Nach Littels Rückkehr wird sich das jedoch auf fatale Weise ändern. Jonathan Littell hat einen ungeschminkten Bericht aus einer umkämpften Stadt geliefert, in der die Zivilbevölkerung – wie immer – den größten Teil der Leiden zu ertragen hat. Rechtlosigkeit, Folter und Mord prägen den Alltag einer Bevölkerung, die schon vorher am Rande des Existenzminimums und ohne bürgerliche Rechte lebte. Jetzt droht stündlich der Verlust des Lebens ganzer Familien.

Littell verbietet sich abschließend jegliche moralische Wertung oder Anklage, außer der, das ratllose Zuschauen und beschönigende Gerede der westlichen Regierungen anzuprangern. Während man dort über mögliche Sanktionen diskutiert, sterben in Homs Frauen und Kinder in steigender Zahl. Diese Botschaft stellt Jonathan Littell am Schluss wie ein Menetekel an die öffentliche Wand.

Das Buch „Notizen aus Homs“ ist im Hanser-Verlag unter der ISBN 978-3-446-24089-6 erschienen, umfasst 238 Seiten und kostet 18,90 €.

Frank Raudszus

 

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